Hallo zusammen!
Entgegen dessen, was die Überschrift suggeriert, geht es heute nur indirekt um sportliche Aktivitäten, sondern (vermutlich nur bedingt überraschend) mal wieder um unseren Umgang mit Medien.
Aber dennoch, ich bitte euch, folgt mir heute durch drei Exkurse … und glaubt mir, wir haben ein Ziel.
Ein kleiner Exkurs zur Tanzmedizin
Ein wichtiger Aspekt darin, Tanzen (und viele andere, sportliche Abläufe) zu erlernen, ist etwas, was man „Automatisierung“ nennt. Das beschreibt den Prozess, bei dem bestimmte Bewegungsmuster oder dergleichen durch Wiederholung, bewusst oder unbewusst, im Hirn gewissermaßen fest „einprogrammiert“ werden, wodurch sie nicht mehr mit voller Konzentration ausgeführt werden müssen, sondern abgerufen werden können. (Meine Tanzschüler werden das kennen.)
Das ist eine ziemlich coole Funktion unseres Gehirns (und das, was manchmal als muscle memory bezeichnet wird, obschon das irreführend ist, da nicht die Muskeln, sondern wirklich das Gehirn diese Arbeit leistet.)
Es gibt allerdings auch ein Risiko, was vor allem dann auftritt, wenn man entweder ohne oder unter schlechter Anleitung lernt: Unser Gehirn ist grundsätzlich wertfrei darin, was es abspeichert. Mit ausreichender Wiederholung lassen sich auch entsprechend falsche (und möglicherweise sogar gesundheitsschädliche) Abläufe abspeichern und jeder der so etwas mal erlebt hat, weiß, wie qualvoll es sein kann, diese wieder zu „deprogrammieren“.
„Aber Thomas,“ mögt ihr fragen, „was hat denn das mit Medien zu tun?“
Geduld.
Die Zahl 23
Wie wohl viele Geeks, Nerds und Alternative meiner Generation las auch ich irgendwo grob in der Oberstufe die Romantrilogie Illuminatus. Die Autoren Robert A. Wilson und Robert Shea bauen darin (neben vielem anderen bizarren Zeug) eine fiktive Numerologie rund um die Zahl 23 auf. Nicht nur die 23, auch die 5 (als Quersumme von 23) sowie weniger prägnant die 17 (mit der Quersumme 8, also 2³) spielen dort hinein. Was sie aber effektiv tun, ist, dem Leser das Hirn zu verdrehen.
Wieder und wieder und wieder liefern die Bücher scheinbare Beispiele dafür, dass die 23 (direkt oder in Form der genannten Schatten) überall sei. Was sie, für den Leser ganz unbewusst, anregen, ist selber auch auf die 23 zu achten.
Es dauert gar nicht lange, bis man ein paar grundlegende Rechenschritte und Grundmuster verinnerlicht, automatisiert hat. Irgendwann muss man gar nicht mehr groß dafür arbeiten, ganz von selbst werden Telefonnummern, Nummernschilder und dergleichen zu Quersummen gezogen oder anderweitig abgearbeitet, um der 23 nachzuspüren.
Man könnte nun sagen, man würde beginnen, überall die 23 zu sehen – aber diese Formulierung suggeriert eine Halluzination, was nicht stimmt. Die 23 war immer da, nur sie als etwas Besonderes wahrzunehmen in Abgrenzung zu allen anderen Zahlen, das ist eine gelernte Form komplexer Mustererkennung, ein antrainierter Reflex.
Einer, der nur ebenfalls wieder schwer zu deprogrammieren ist.
(Bis einschließlich „ist“ hatte dieser Artikel, ohne die Überschrift, 440 Wörter. 4+4+0=8, 8=2³. Weißte Bescheid.)
Alle Kaninchen haben Zahnstein
Eine sehr gute Freundin von mir hat vor Jahren eine Ausbildung in einer Tierarztpraxis gemacht. Sie selbst ist dann im Nachhinein auf einen psychologischen Trugschluss gestoßen, den sie mir gegenüber mal mit dem Satz „Alle Kaninchen haben Zahnstein“ umschrieb, der aber im Grunde auf diverse andere Beispiele übertragbar wäre.
Folgendes ist der Fall: Gesunde Probanden brauchen keinen Arzt. Jene, die nicht gesund sind schon, und (die Einsichtigen unter ihnen) gehen drum dorthin. Drum sind alle, die der Arzt sieht, entsprechend erkrankt.
Daraus lässt sich natürlich nicht ableiten, dass alle Probanden krank sind, aber auf eine unbewusste Art besteht natürlich immer das Risiko, dass sich der Eindruck ins Hirn frisst. Ein Humanmediziner hat dann noch mal eine etwas andere Perspektive, weil er ohnehin täglich Menschen sieht, aber der Tierarzt mag bestimmten Tieren oder Gattungen außerhalb seiner Praxis nie begegnen und läuft daher immer Gefahr, eine letztlich unbegründete Animosität aufzubauen.
Alles was Falsch ist an …
Und damit kommen wir endlich zum medialen Knackpunkt. Denn mein eigentlicher Impuls, diesen Artikel zu schreiben, kam ganz woanders her – er rührt aus einer Beobachtung im Freundeskreis.
Jene in meinem Freundeskreis, von denen ich weiß, dass sie Spaß an den Nitpick- und Detailkritik-Videos unserer Zeit haben, zeigten in meiner beschränkten Empirie auch immer die größten Tendenzen, selber in Filmen auf Goofs, Nitpicks, auf all die kleinen Filmfehler anzuspringen. Und auch, sich an ihnen zu stören.
Es gibt ja genug Quellen dafür, angefangen bei teils relativ großen YouTube-Kanälen wie CinemaSins, die stets mit neuen Beiträgen der Stilrichtung Everything Wrong With aufwarten können. Und bevor jemand was sagt, ich weiß, dass beispielsweise das genannte Format letztlich humoristisch gemeint ist – aber hier nun kommen die zuvor ausgeführten Exkurse wieder ins Spiel.
Selbst wenn das Quellmaterial humoristisch ist, es schult und lenkt den Blick des Betrachters. Ironie schützt nicht vor Adaption. (Im Sprachwandel auch gut zu beobachten, wenn die augenzwinkernde Nachahmung von oft „bildungsfernen“ Sprechweisen dazu führt, dass sie sich schichtübergreifend ausbreiten, Alter!) Und selbst wenn unser Ziel es erstmal ist, über etwas zu lachen, so schulen wir uns doch darin, es darum wahrzunehmen. Es gibt keine 23-Verschwörung, aber es gibt die Zahl 23 und je härter wir uns darauf trainieren, sie wahrzunehmen, desto besser werden wir darin, sie zu finden.
Die 23 ist (abseits von Illuminatus) aber wertfrei. Es ist eine Zahl, die intrinsisch weder gut noch schlecht ist. Die Filmfehler werden aber von Anfang an negativ markiert. Everything wrong with, CinemaSins, die Kommunikation ist klar: Hier stimmt etwas nicht. Hier sollte etwas anders sein, als es ist. Jemand hat einen Fehler gemacht. Jemand hat versagt.
Seit Anbeginn des Films, aber im Grunde sogar seit Anbeginn menschlichen Erzählens lassen wir ab und zu Fünfe gerade sein. Manchmal geht es um Straffung und Dramaturgie, manchmal um Spannung, manchmal ist es ein Versehen – aber immer gibt es einen im Zweifel unausgesprochenen Vertrag zwischen dem Erzähler und dem Rezipienten. Der Rezipient stimmt zu, seinen Unglauben in Zaum zu halten und der Erzähler wird ihn dafür unterhalten.
Diese Suspension of Disbelief (oder im Deutschen, wie so oft etwas staubiger klingend aber das Gleiche benennend: die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit) ist das Fundament menschlichen Erzählens und je mehr wir uns darauf schulen, Risse im Fundament zu suchen, desto schneller wird dieser Schutzmantel der Aussetzung auf- und zerbrechen.
Und je mehr wir diese Fehler wahrnehmen, je mehr sie unbewusst in den Vordergrund unserer Wahrnehmung treten, desto leichter ist es anzunehmen, dass diese Fehler ein bestimmendes, bedingendes Element des Mediums sind.
Alle Kaninchen haben Zahnstein, und Hollywood macht einfach keine guten Filme mehr. Und dann sind da die Fragen um den Treibstoff-Plot von The Last Jedi, dann sind da die Ungereimtheiten in der Physik von Ant-Man und es ist leicht, die Wunde zu salzen und den Finger hineinzulegen.
Eine Frage aber bleibt, und die ist weniger trivial als man meint: Warum sollte man?
Zurück zum falschen Muskel
Das führt uns dann gewissermaßen zur Essenz dieses Textes: Ich behaupte, allerhand dessen, was heutzutage passiert, ist die Entsprechung der Einübung eines falschen, motorischen Ablaufs im Sport.
So wie wir eine falsche Bewegung möglicherweise für eine richtige Übung halten, so ist es leicht, diese Detailfehlersuche für eine zielführende und schlussendlich gewinnbringende Kritik an einem Medium zu halten.
Nur glaube ich, dass wir damit den Fokus zu unseren eigenen Ungunsten verschieben – wenn unser Ziel nicht mehr die Unterhaltung, sondern die Perfektion ist, dann ist das ein Problem. Nichts gegen Perfektion, so an sich, aber nicht um ihrer selbst wegen.
Die Frage ist, denke ich, was wir wollen. Es ist ja jeder heute ein Kritiker, und jeder brüstet sich mit einer fundierten, klaren, harten Meinung. Die scharfen Worte und die detaillierte Liste der Filmfehler, gladius et scutum, nur wofür?
Vielleicht ist die Kernfrage sogar die: Warum wollen wir Kritiker sein?
Warum sollten wir das sein wollen?
Warum sollten wir nicht viel lieber ins Kino gehen, das Buch lesen oder das Spiel spielen wollen, um daran Spaß zu haben?
Es wird uns ohnehin nicht immer gelingen. Manche Medien sind besser, manche sind schlechter, und es geht mir ja wie so oft nicht darum, völlig unkritisch an ein Werk zu gehen.
Nur … wenn Unterhaltung unser Ziel ist … vielleicht wäre es dann wirklich mal an der Zeit, diese Muskeln zu trainieren. Üben wir uns doch lieber gezielt, jene Dinge zu erkennen und zu beschreiben, die uns glücklich machen, anstatt weiter nach jenen zu forschen, die wir ausweisen müssen, um unser vermeindliches Unglück zu benennen.
Viele Grüße,
Thomas
Schönes Ding. Ist mir vereinzelt, gerade im Gespräch über die „Qualität“ der diversen Medien-Universen (GoT, MCU…) heutzutage, auch schon aufgefallen, hatte aber noch nie so konzentriert drüber meditiert.
(Nitpicking: IntrinsTisch? (Absatz „Alles was Falsch ist an…“, dritter Block, zweiter Satz ;-) )
Heyho!
Danke für deinen Kommentar – freut mich, dass dir der Text was gebracht hat :)
Und ja, es ist etwas, worüber ich (natürlich berufsbedingt, auch aber aus einem gewissen philosophischen Interesse) viel nachdenke. Ich formuliere das für mich auch noch immer weiter für mich aus, was in den letzten zwei, drei Jahren hier im Blog definitiv kürzer gekommen ist als früher. Ich denke aber, die „Meditationen“ (I’ll take it!) haben ja erfreulicherweise in jüngerer Zeit wieder zugenommen hier.
Viele Grüße,
Thomas
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