Hallo zusammen!
Vorletztes Mal ging’s hier ja mehr oder weniger um die Frage, was ein Buch eigentlich ist, angeschlossen an die Frage, wie sinnvoll es sein kann, das Ziel zu verfolgen, 50 eben solcher Bücher in einem Jahr zu lesen.
Heute will ich noch einmal tiefer in diese Fragestellung eintauchen – in diese Frage nach Sinn und Zweck.
Denn was man ja auch erst einmal einfach festhalten kann, ist dies: Überhaupt auf die Idee zu kommen, eine bestimmte Anzahl Werke in einem Jahr zu rezipieren (egal ob man sie liest oder hört; siehe den besagten letzten Artikel), ist ein unverkennbarer Ausdruck der zweckoptimierten Leistungsgesellschaft, deren Produkt wir mehr oder weniger alle sind.
Alles, was wir tun, scheint heutzutage geradezu der Entschuldigung zu bedürfen, einem Zweck zu dienen. Alles muss mehr sein als die Summe seiner Teile. Vielleicht dient unser Tun in irgendeiner Form einem Nebenerwerb (und wenn uns das zu schlimm klingt, können wir den noch als side hussle codieren), oder es dient womöglich einem Wettbewerb, in dem wir uns mit anderen messen. Und wenn wir uns schon nicht messen, dann geht es eventuell um Selbstverbesserung, um Selbstoptimierung … und irgendwie so selten um den Spaß an der Freude.
Wir haben, gesellschaftlich, wirklich viel getan, um selbst unsere Freizeit mit Stress aufzuladen.
Vom Ziel
Vielleicht hilft ein Blick in die Philosophie, um der Sache etwas Form zu geben.
Kieran Setiya ist Professor für eben jene am MIT (und vermeidet scheinbar, ähnlich wie ich, aus einem Studium der Philosophie abzuleiten, sich selbst als Philosoph zu bezeichnen) und auf ihn geht eine ganz wertvolle Unterscheidung zurück. Setiya differenziert zwischen telischen und atelischen Tätigkeiten – gruseliges Fremdwort, klar, aber beide Begriffe gehen schlicht zurück auf das altgriechische telos, das Ziel.
Kurzum: Telische Tätigkeiten sind zielgerichtet und dienen einem höher gerichteten Zweck, atelische Tätigkeiten hingegen dienen nur sich selbst und verfolgen keine weiterführende Absicht. Und es ist spannend, wenn man mal schaut und erkennt, dass selbst bei vielen Freizeit-Aktivitäten inzwischen fast immer eine gewisse telische Instrumentalisierung stattfindet oder zumindest ein Grund gesucht wird. Lesen dient der Bildung (und nicht dem Spaß daran), Sport dient der Gesundheit (und nicht dem Spaß daran), Rollenspiel dient der Stärkung von Sozialkompetenz … das Muster ist klar. Mehr noch aber ist erschreckend, wie schnell Hobbys, die in ihrem Kern atelisch sind, dagegen verteidigt werden müssen, von Außenstehenden belächelt zu werden.
Gerade jeder Erwachsene, der wahlweise noch begeistert Computerspiele spielt, Miniaturen bemalt oder Modelleisenbahnen baut, kann davon vermutlich Lieder singen.
Hobbyisten als Aufrührer
Auch das ist keine Erkenntnis, die vor mir niemand hatte. So schreibt Oliver Burkeman in seinem großartigen Four Thousand Weeks etwa:
Yet it’s surely no coincidence that hobbies have acquired this embarrassing reputation in an era so committed to using time instrumentally. In an age of instrumentalization, the hobbyist is a subversive: he insists that some things are worth doing for themselves alone, despite offering no payoffs in terms of productivity or profit.
Er spekuliert von dort aus weiter, dass diese Ablehnung, die Hobbyisten erfahren, auch unterbewusste Missgunst sein kann. Missgunst derer, die tief in sich die Vermutung hegen, dass trotz all der eigenen Selbstoptimierung diese dem Hobby frönenden Rebellen am Ende gar ungerecht das glücklichere Leben leben könnten.
Ich denke, er ist da etwas auf der Spur.
Ein Gedanke, der mir bei dem Thema auch immer wieder durch den Kopf geht ist der des l’art pour l’art. Flaubert, Baudelaire, Wilde – seit Anfang des 19. Jahrhunderts mehrten sich Stimmen, die sich gegen den Gedanken wehrten, dass ein Kunstwerk zu etwas dienen müsste. „Es gibt nichts wirklich Schönes außer dem, das zu nichts nütze ist“, schreibt schon Théophile Gautier.
Vielleicht kann man den Gedanken tatsächlich übertragen. Vielleicht ist die Anmut der Zwecklosigkeit eines Kunstwerks vergleichbar mit der Anmut der Zwecklosigkeit einer Freizeitbeschäftigung. Nur haben wir uns gesamtgesellschaftlich über die Jahre recht erfolgreich vom Gegenteil überzeugt. Immer wieder, teils bewusst und teils unbewusst, ist die Botschaft doch klar: Wer etwas rein zum Vergnügen, atelisch und zweckslos, unternimmt, der verschwendet seine Zeit. (Dass Zeit nichts ist, was man besitzen, und demnach auch nicht verschwenden kann … ein gleichsam philosophisches Thema für ein anderes Mal.)
Was zählt
Solange wir nicht wegen eines externen Zieles lesen – also sagen wir für eine Prüfung lernen, oder etwas für die Arbeit lesen müssen –, dann kann es uns eigentlich vollkommen genügen, dass wir lesen.
Wenn es Spaß macht, spannend oder gut ist, dann ist das wichtig. Die Menge des Gelesenen ist egal. Auch die Art der Lektüre ist erst einmal egal, solange sie einen selbst das gibt, was man sucht. Vielleicht ist es anerkannte hohe Literatur, vielleicht ist es niveaulose Unterhaltung – wenn es Spaß macht, spannend oder gut ist, ist das alles, was es leisten muss.
Wichtig ist aber auch zu erkennen, dass es nebensächlich ist, was man in der Zeit nicht liest. Alle Bücher unter dem Himmel zu lesen ist eine Herausforderung, an der ein jeder scheitern wird. Laut Unesco erscheinen pro Tag mehr als 4.900 Bücher. Um es hart zu sagen: Wenn ihr ein durchschnittliches Lebensalter erreicht und jede Woche in eurem Leben ein solches Buch lest, werdet ihr es nicht schaffen, die Neuerscheinungen eines Tages zu lesen.
FOMO ist stets ein Teufelskreis, aber in diesem Fall gibt es nicht einmal viel zu diskutieren.
Der Weg muss in der Sache das Ziel sein, denn ein jedes Ziel, das auf Volumen basiert, ist unerreichbar. Wie ich schon das letzte Mal schrieb: Wenn ihr 60 Minuten am Tag Zeit habt zu lesen, diese 60 Minuten am Tag lest und dabei 60 Minuten Spaß habt, dann habt ihr schon maximiert, was zu maximieren war.
„If nothing we do matters“, sagt Angel so treffend in seiner Fernsehserie, „than all that matters is what we do“. Frei übersetzt: „Wenn nichts, das wir tun, von Bedeutung ist, dann ist nur von Bedeutung, was wir tun.“
Zugegeben, Angel kämpft gegen größere Mächte als einen Stapel ungelesener Bücher, aber er hat hat Recht.
Insofern: Lest.
Lest viel.
Lest gerne.
Aber nicht weil x Bücher pro Jahr auf eurer To-Do-Liste stehen oder irgendein YouTube-Guru euch gesagt hat, dass erfolgreiche Menschen lesen müssen, um es im Leben zu etwas zu bringen.
Lest um des Lesens willen.
Das ist mehr als genug.
Viele Grüße,
Thomas