Über die Sinnlosigkeit, 50 Bücher im Jahr zu lesen

Hallo zusammen!

Beginnen wir mit einer gar wahrhaftigen Wahrheit: Wer ein Mensch sein möchte, der viele Bücher liest, muss nichts weiter dafür tun, als viele Bücher zu lesen.
Das klingt tautologischer als es in der Praxis womöglich ist, denn all diese großartigen Ratgeber-Videos online, wie auch du jemand sein kannst, der viele Bücher liest, laufen im Endeffekt auf drei Dinge hinaus: Speedreading (heikel; und generell ein Thema für ein anderes mal), bloß Zusammenfassungen lesen um die Kerninhalte abzugreifen (seufz) oder eben … nun … viel lesen.
Gerne mit einem konkreten Ziel, etwa – und das habe ich ja mehr aus Spaß auch über Jahre gemacht – beispielsweise 50 Bücher im Jahr.

Ich finde das inzwischen jedes Jahr schwieriger – und nicht aus dem Grund, den ihr vermutlich erahnt.

Stellen wir uns also mal ganz dumm und fragen uns: Wat is‘n Buch?

Wat is’n Buch?

Nein, ganz im Ernst, die Frage ist in dem Zusammenhang durchaus relevant. Das kann so schwer nicht sein, denkt man sich … aber fangen wir mal an. Der Duden beispielsweise definiert „Buch“ (unter anderem) so:

aus gebundenen, gehefteten o. ä. Seiten bestehender, mit einem festen Deckel oder kartoniertem Einband versehener Gegenstand unterschiedlicher Größe und Verwendung (Quelle).

Damit sind wir schon bei einem dieser akademische Grenzfälle, wo streitwillig freudlose Buchbinder im Widerspruch die Fäuste dem Taschenbuch entgegenrecken und rufen: „Das ist kein Buch, das ist eine Broschur!“
Aber lasst uns da doch mal ein Auge zudrücken und der Einfachheit halber sagen: Taschenbuch, Klappbroschur, Hardcover – egal, das ist ein Buch. Okay. Und deren digitale Pendants, sprich die eBook-Versionen der gleichen Inhalte … dann wohl auch. (Ja, ja das ist auch ein ganz eigenes Fass, doch das lassen wir heute zu.)

Aber das ist doch schön. Klar definiert. Dann können wir weiter sagen: Ein Sachbuch ist ein Buch. Cool. Auch ein Roman ist also beispielsweise ein Buch. Gut, das ist einfach. Läuft bei uns.
Aber was etwa ist mit Novellen? Haruki Murakamis Die unheimliche Bibliothek ist eine Novelle von 64 Seiten, im Format noch etwas unter DinA5 – ist das ein Buch? Ich finde schon. Ich denke auch nicht, dass dies zwingend eine quantitative Entscheidung sein darf – aber natürlich schwingt dennoch die Frage mit, wo die Grenze wäre. Drac von Stollers Pirate Ghost Ships hat 223 Worte, das sind weniger als 15% dieses Beitrags hier – und das war zumindest auch mal als eBook kaufbar, aber wohl eher … kein Buch?
Eine Sorites-Paradoxie, na großartig, dabei hatte alles so schön angefangen.

Wir können das durchaus noch viel, viel weiter kaputtdenken: Was ist mit Sammelbänden? Täte ich – im Sinne des arbiträren Ziels von 50 Büchern im Jahr – gut daran, die alten Erdsee-Ausgaben aufzutreiben, weil die aktuelle Auflage je drei Romane in einem Band sammelt? Gleicher Inhalt, aber dreimal Punkte kassieren?
Und gerade für Fantasy-Leser: Sollte ich dann lieber auch die alten 80er- und 90er-Jahre-Ausgaben auftreiben, weil zum Beispiel Das Rad der Zeit durch diverse künstliche Aufteilungen mit 37 statt 14 Büchern zuschlägt?

Was ist ein Buch – also nicht nur im Sinne von Seiten zwischen einem Deckel, sondern … hm, als erzählerische, als inhaltliche Einheit?

Und ich gebe zu, die Sammelbände und getrennten deutschen Bücher, das ist ein bisschen Anstellerei. Aber konkreter: Zählen Comics?
Mickey-Maus-Hefte vermutlich nicht, Graphic Novels schon? Klingt erstmal intuitiv, aber … besitzt ein beliebiges Comic-Trade-Paperback inhärent eine höhere Wertigkeit als ein Lustiges Taschenbuch? Was ist mit den frankobelgischen Comics? Vom Umfang her ist ein neuer Asterix-Comic auch nicht mehr als zwei Ausgaben Superman. Wie sind die klassischen Manga-Taschenbücher einzustufen?
Dass Comics aber auch eine Literaturform sind, das will hoffentlich niemand mehr abstreiten. Aber dennoch, als Buch … zählt das?

Der Eisberg ragt tiefer

Nochmal: Was ist ein Buch?
Denn einen Elefanten im Raum umschifft die obige Duden-Definition komplett: das Hörbuch.
Es ist ganz putzig wie derivativ der Duden das „Hörbuch“ begreift, wenn es dort als „auf CD, als Audiodatei o. Ä. aufgezeichneter gesprochener Text eines Buchs“ gefasst wird; das ist hart an der Grenze eines Zirkelschlusses. Aber ja: zählen Hörbücher?
Ich weiß, dass es Puristen da draußen gibt, die das kategorisch ablehnen würden. Das kann man wahlweise unter konservativer Empörung betreiben, dass das ja wohl kein richtiges Lesen sei und so, oder man verweist auf die unterschiedlichen kognitiven Prozesse beim Lesen. Letzteres stimmt schon. Lesen an sich macht ganz faszinierende Dinge mit dem Gehirn von Lesenden, und die Forschung legt durchaus nahe, dass das Lesen von abgebildetem Text und das Hören von gesprochenem Wort unterschiedliche Auswirkungen haben, wenngleich beide positiv. Und bevor einer vorschnell Grenzen ziehen will, gibt es dann auch noch Hinweise, dass das Lesen von gedrucktem Wort und das Lesen auf eReadern kognitive Unterschiede mit sich bringt, aber gute Güte, ich sagte doch schon, das Fass lassen wir heute wirklich mal zu.
Okay. Machtwort: Hörbücher zählen, sagen wir jetzt einfach mal. Finde ich schön.

Einmal durchatmen. Okay?

Was ist mit Hörspielen? Das ist mindestens so eine Falle wie die Roman/Novelle-Sache vorhin, denn zwischen einer Folge Benjamin Blümchen und der viele Stunden umfassenden, ultra-aufwendigen Sandman-Adaption auf Audible liegen auch ein paar Eskalationsschritte. Aber dennoch – zählt das?
(Apropos, zählen Kinderbücher? Also die mit wenig oder keinem Text? Zählt hier irgendwer Artbooks?)

Und mancher Videospieler mag jetzt auch seine Chance wittern und mal vorsichtig fragen, ob visual novels dann vielleicht auch zählen … weiß irgendwer gerade noch wirklich abzustecken, was 855 Jahre nach Gutenbergs Tod jetzt genau ein Buch ist?

Cui bono …?

Wenn ihr das hier mitlest und euch zunehmend fragt, ob’s mir noch gutgeht – fair. Aber im Grunde führt das auch direkt zu dem Punkt, auf den ich hinauswollte: Es ist eigentlich völlig sinnfrei, wenn nicht gar unmöglich, eine sauber vergleichbare Zahl gelesener Bücher zu erreichen. Es ist schwer, 50 Bücher im Jahr zu lesen – nicht erst des Lesens, sondern schon des Zählens willen.
Und im Ernst – wem nützt es? Vermutlich niemandem; vorsichtig gefasst vielleicht dem Zählenden selbst. Vielleicht, um dem selbstgestellten Anspruch an die eigene Gelehrsamkeit gerecht zu werden; vielleicht aus Darstellungsdrang zwischen Instagram und Goodreads; vielleicht weil einem hunderte von Produktivitätsvideos den Floh ins Ohr gesetzt haben, dass alle erfolgreichen Menschen spätestens um 4:17 aufstehen, dann Yoga machen und anschließend zweieinhalb Bücher lesen.
Aber ehrlich … eigentlich ist es doch egal. Ich schrieb schon mal vom unnötigen Stress mit ungelesenen Büchern. Und ganz hart: Wenn ihr 60 Minuten am Tag Zeit habt zu lesen, diese 60 Minuten am Tag lest und dabei 60 Minuten Spaß habt oder etwas dazulernt, dann habt ihr schon maximiert, was zu maximieren war. Und wenn’s 20 Minuten sind, sind’s 20 Minuten. Der Rest ist egal.
Wie egal, und gerade aus Sicht der Philosophie auch warum, das wird innerhalb der nächsten 1-2 zukünftigen Artikel hier noch mal ein eigenes Thema sein. Aber bevor wir hier für heute zum Ende kommen, verdient ein Aspekt noch Betrachtung, der jetzt etwas unerwartet zumindest auf den ersten Blick in die andere Richtung zu lenken scheint:

Vom Wert, sich Ziele zu stecken

Denn eines will ich, trotz all der vorangehenden fast 1.000 Worte und trotz der Tatsache, dass ich auf dieser Seite hier meine Leseliste anders als früher auch nicht mehr demonstrativ teile, nicht verhehlen: Ich habe weiterhin ein gestecktes Ziel. Denn – ganz klar – Ziele sind hilfreich.
Wir sind ja alles am Ende des Tages sehr, sehr bequeme Affen. Manche mehr, manche weniger, aber im Kern ist der Weg des geringsten Widerstandes immer attraktiv. Und weil ich wirklich gerne lese, ich aber auch um den unendlichen Vortex von YouTube-Videos, den grenzenlosen Content der Streamingplattformen und das Zeit-Vakuum des Internets allgemein weiß, habe ich gelernt, dass man sich da durchaus selbst bessere Chancen geben kann.
Wenn ich zu Beginn des Artikels despektierlich von den ganzen Ratgeber-Videos schrieb, dann war das auch nur halb fair. Denn eine andere Sache, die diese Videos sehr gerne predigen – und völlig zu Recht – ist die Macht, sich Gewohnheiten zu schaffen.

Was für mich sehr gut funktioniert hat, war ein relativ niederschwelliges Ziel: 25 Seiten am Tag versuche ich zu lesen. Das halte ich auch nach, einfach weil ich weiß, wie gut das für Menschen funktioniert. Ich teile es aber nicht – es dient nicht dem Angeben, es dient nur der Selbstkontrolle.
Zudem habe ich mir eine Scheibe aus CGP Greys Notizsystem abgeschnitten und gönne mir eine halbe Markierung, wenn ich überhaupt gelesen habe, aber meine 25 Seiten nicht erreicht habe. Hauptsache, ich habe gelesen.
Denn das ist eigentlich, worauf es ankommt. Und siehe da, weder fühle ich mich – wie einige Leute, denen ich davon erzählte, mir durchaus prophezeit haben – davon unter Druck gesetzt, noch habe ich in mehr als einem Jahr auch nur einen einzigen Tag gar nicht gelesen.

Warum aber soll das nun anders sein, mögt ihr euch (bzw. mich) fragen? Ist der Schritt von 50 Büchern im Jahr zu 25 Seiten am Tag nicht nur ein Wechsel der Maßeinheit und damit genau das gleiche Verhalten, gegen das ich hier jetzt so wortreich zu Felde geritten bin?
Lasst es mich so sagen: 50 Bücher in einem Jahr zu lesen ist keine Vorlage für eine Gewohnheit, es ist eine steile Klippe, an deren Fuße man steht und in Ehrfurcht hinaufblickt, während man sich andächtig fragt, wie dieses Ziel zu erreichen sein mag. Ein maximal niedrig angesetztes „Lies doch eine Seite“ ist ein kleiner Stein in einem langen Weg, den man in Ruhe entlangschreiten kann. Vielleicht steht man am Ende des Jahres auf jenem Gipfel, vielleicht auch erst später – aber das ist egal. Hauptsache man geht den Weg.
Die Details müsst ihr mit euch selbst ausmachen; ich persönlich zähle Comic-Seiten wie Buch-Seiten und höre Hörbücher, zähle sie aber nicht mit, doch … you do you.
Es geht nicht wirklich um ein Ziel, es geht um den Weg. Und den Weg beschreitet ihr, indem ihr Bücher konsumiert. Ihr könnt sie hören oder lesen, mit oder ohne Bilder, viel oder wenig.
Wie ihr wollt.
Denn – so zumindest inzwischen meine Überzeugung – wir lesen ja privat für den Genuss dabei, nicht um arbiträre Häkchen auf gleichsam arbiträren Checklisten vornehmen zu können. Auch wenn das sehr im Zeitgeist läge.

Und wie schon gesagt – einen eher philosophischen Blick auf das Lesen um des Lesens Willen gibt es dann nächstes oder übernächstes Mal hier an dieser Stelle.

Viele Grüße,
Thomas

2 Kommentare zu “Über die Sinnlosigkeit, 50 Bücher im Jahr zu lesen

  1. Pingback: Von der absolut großartigen Zwecklosigkeit, Bücher zu lesen | Seelenworte

  2. Pingback: DORPCast 219: Wenn das Hobby zum Stress wird - Die DORP

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..