Wer holt die Kamera? Ein Akt der Dekonstruktion

Hallo zusammen!

Bevor wir richtig loslegen, zwei Disclaimer:
Zum einen: Ich benutze in diesem Artikel ein Video als Beispiel, ich will das aber weder als Kritik an dem Video noch als Kritik als seiner Schöpferin verstanden wissen; ebenso wie es nicht in dem Sinne eine Empfehlung ist. Es ist einfach ein dankbares Beispiel, um meinen Punkt zu illustrieren.
Zum anderen: Wieviel man aus solchen Artikeln für sich mitnimmt kommt immer sehr drauf an, wie sehr man sich selbst schon vorher mit dem Thema befasst hat. Für manche ist es ein alter Hut – und für manche kann es eine dauerhafte Schramme in der Illusion hinterlassen, der man sich willentlich gerade beim Eskapismus hingibt. Ihr seid gewarnt.

Also … ich war ja eine ganze Weile krank und habe währenddessen eine Menge Videos konsumiert. Siehe dazu auch meinen letzten Beitrag hier.
Aber es war bei diesem Video, dass mir der Gedanke zu dem Artikel kam, den ihr gerade lest. Konkreter bei diesem Shot:

Es ist wirklich hübsch gemacht, die angenehme Ästhetik von leiser Musik und der malerischen Landschaft erfolgreich um dieses Gefühl von Ruhe bemüht, das den Kanal auszuzeichnen scheint (erneut: nichts was ich aktiv verfolge).
Und derweil saß da ich und stellte mir, verdorben durch inzwischen Jahrzehnte von Medienproduktion und Medienanalyse, eine Frage – wer holt denn da jetzt am Ende die Kamera?

Natürlich ist dieses Bild der einsamen Figur in der Natur schön, es transportiert diesen geradezu romantisch idealisierten Eindruck eines Menschen fernab der Massen im Einklang mit der Natur. (Also romantisch im Sinne der Romantik; nicht zwingend im Sinne von Herzchen und Liebe).
Aber irgendwie wurde das ja gefilmt. Und demnach gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sie hat eine Kameraperson dabei (und war demnach gar nicht einsam dort) oder aber – einfach mal vorstellen – sie ist den Weg gegangen, hat kehrt gemacht und ist die ganze Strecke zur Kamera zurückgetrabt. Und dann ist sie wieder den Weg entlang gegangen, mit der Kamera im Gepäck – das heißt falls das denn überhaupt ihre Richtung war und nicht nur ein schöner Winkel für die Aufnahme.

Worum es mir geht:
Das ist natürlich wahr für alle audiovisuellen Medien. Wenn wir nachher Bild und/oder Ton von dort haben, dann waren Leute mit Bild- und Tonequipment vor Ort.
Das gilt für jeden Film, jede Doku, jeden Nachrichtenbeitrag. Das ist wundervoll illustriert in Werner Herzogs Doku Die Innere Glut¹ über das Vulkanforscher-Paar Krafft, in der er einerseits deren atemberaubende Aufnahmen zelebriert, sich andererseits aber auch nicht scheut zu zeigen, dass manche der Drehorte geradezu absurd gut touristisch erschlossen waren.

Wo man allerdings einen Unterschied feststellen kann – und wo es glaube ich für das Seelenheil eines jeden einzelnen wichtig ist, wachsam zu sein – ist bei all dem, was in Form neuer Medien eine andere Nähe zum Betrachter sucht. YouTube-Kanäle wie unser Beispiel hier, viele Podcasts, aber mehr noch Social-Media-Netzwerke suggerieren den Betrachtenden ja letztlich ein Wir-Gefühl, wo nur bedingt eines vorhanden ist. YouTuber, Streamer, Social-Media-Personen jeder Art lassen das Publikum an ihrem Leben teilhaben – allerdings ohne ihrerseits am Leben des Publikums gleichermaßen teilhaben zu können. Das ist eine sogenannte parasoziale Bindung. Und gerade weil es eine solche parasoziale Bindung ist, ist dieser Einblick kuratiert – also ausgewählt und arrangiert.
Auch das ist in der heutigen Medienwelt normal, zumindest im Sinne eines allgegenwärtigen Vorhandenseins. Man nehme nur meinen und Michaels DORPCast, der zwar den Anstrich eines lockeren Gesprächs hat und zu einem gewissen Grad auch genau das ist, der aber zugleich im Schnitt geschliffen und sauber produziert einen viel souveräneren Eindruck vermittelt als wir das live tun würden. Und der ebenso oft genug die Ansprache an die Hörenden wählt, in der Annahme, dass diese dort sind.
(Memo an mich selbst: Wir werden hier dringend demnächst auch mal über mediale Tulpas reden müssen … ein Thema für ein anderes Mal.)

Das ist nicht schlimm. Aber ich denke es ist wertvoll, sich dessen bewusst zu werden.
Es bedeutet nicht mal, dass die besagten Medien nicht dennoch authentisch sein können. Selbst Herzog geht in der Doku recht umfangreich darauf ein, dass es (ich paraphrasiere) am Ende legitim ist, die Wirklichkeit selektiv zu präsentieren, wenn es letztlich der Vermittlung eines höheren Konzeptes dient.
Aber zugleich kann man denke ich gerade bei sozialen Medien nicht außer Acht lassen, dass beispielsweise Gefühle von Unzufriedenheit – wenn das eigene Leben an den produzierten, polierten Ausschnitten aus dem Leben solcher Medienpersonen gemessen wird – stark potenziert werden. Im Kontext der Schönheitsideale unter Jugendlichen ist das recht umfangreich inzwischen Teil der Berichte, aber es reicht halt viel weiter.

Und in diesem Kontext kann die Frage, die ich diesem Artikel vorangestellt habe, ein Werkzeug unter sehr vielen sein, um das Präsentierte zu hinterfragen.
Wer hält die Kamera? Wer trägt sie zwischen den Shots? Welches andere Equipment war nötig?
Was macht all das mit dem, was das Video mir zeigt?
Und was wiederum macht das Video gerade darum mit mir?

Viele Grüße,
Thomas

¹ Ich würde gerne in irgendeiner Form auf die besagte Doku verlinken, aber Stand 1. Mai 2023 scheint diese weder bei den gängigen Streaming-Netzwerken, in den öffentlich-rechtlichen Mediatheken noch auf DVD oder BluRay verfügbar zu sein.

3 Kommentare zu “Wer holt die Kamera? Ein Akt der Dekonstruktion

  1. Seit ich selber angefangen habe Kram für Vlogs zu filmen, kann ich diese Art von Videos gar nicht mehr kuken, ohne mir zu denken „Wie nervig, jetzt muss sie den ganzen Weg zurücklaufen, nur um das Stativ zu holen“ … Manche Dinge kann man nicht mehr entwissen. ;-) Reveals von Nähvideos sind auch so ein Ding, die Mädels (und Jungs vermutlich, aber ich schaue meistens Mädels) machen ja einen Riesenaufwasch teilweise mit Drohnen-Overhead-Shots und allem Drum und Dran – manchmal erzählen sie auch, dass sie für die 30 Sekunden Reveal Footage fast solange brauchen, wie fürs Nähen das ganzen Teils. Für sowas bin ich definitiv zu faul… ;-)

    • Ja, unter anderem darum auch das „Ihr seid gewarnt“ zu Beginn, denn … ja, man kann sich mit zu viel Wissen tatsächlich selbst den Genuss von Medien wenigstens schwerer machen.
      Für Nähvideos gilt glaube ich da der gleiche Gedanke wie ich ihn bei Schreinerei-Videos habe – ich fühle einfach, wie er oder sie (beim Holzwerken wenig überraschend eher Männer) zusätzlich zu jedem womöglich diffizilen Arbeitsschritt auch noch die Kamera platzieren, womöglich ein Licht aufstellen mussten etc.
      Dann ist für mich eigentlich immer die Frage: Bewegt die Kamera sich? Dann war jemand mit da. Ist sie immer statisch? Dann ist’s vermutlich eine Ein-Mann-Kapelle ;)

      Aber ist ja mit anderen Medienformen ähnlich. Mit wenig kann man sich den Genuss von Film oder Buch so schwer machen wie mit dem Wissen, wie Film oder Buch gemacht werden ;)
      Zumindest zu einem gewissen Grad – ich hab’s irgendwann gelernt für mich zu verarbeiten. Aber ich glaube die ganze „Dinge erst einmal nicht kacke finden“-Sache, für die ich mich so stark mache, hat zu einem gewissen Teil auch dort ihren Anfang genommen …

      Viele Grüße,
      Thomas

      • Och, für mich macht es eigentlich nichts kaputt, an Magie interessiert mich eh am meisten was der Trick ist und wie er funktioniert. ;-) Aber es gibt einem natürlich neue Möglichkeiten an die Hand sich über schlampiges, oder einfach liebloses Handwerk zu ärgern – aber auch viele neue Blickwinkel sich über gut gemachte Dingen zu freuen, von daher sehe ich mehr Wissen unterm Strich glaube ich wertneutral. :-)

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