Warum es wichtig ist, dass Dinge enden

Hallo zusammen!

Als ich hier gerade sitze und diese Zeilen – etwas hektisch auf dem Handy, um den Faden, den ich in Gedanken fand, nicht wieder zu verlieren – niederschreibe, geht auf der gegenüberliegenden Talseite die Sonne unter. Es ist das unverkennbare, unmissverständliche und vor allem unverhandelbare Signal, dass dieser Tag endet. Diese Struktur – Morgen, Mittag, Abend – ist dabei für uns alle wohl kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit.
Zumindest bis auf überall dort, wo es nicht so ist.
Reist man auf unserer kleinen Erde weit genug an die äußeren Ränder, findet man Orte, wo die Sonne nicht jeden Tag untergeht. Und wenn man sich weiter Statistiken anschaut, ist schnell ersichtlich, dass uns diese Abwesenheit von Anfang und Ende, dieser Zustand in einem ewigen Dazwischen, als Menschen gar nicht guttut. Und davon ausgehend, lasst uns das als mehr oder weniger unverhohlene Einleitung nutzen und über moderne Popkultur reden.

Aristoteles (und andere Menschen)

Wobei, reden wir erst mal über ein paar Jahrtausende alte Popkultur – Aristoteles ist es, dem wir die Ausformulierung der bis heute beliebten 3-Akt-Struktur verdanken. Also … ganz derb vereinfacht gesagt, weil das noch mit Freytags Fünf-Akt-Struktur und anderen Thesen kluger Leute weiter ausformuliert wurde. Aber im Grunde ist der Kern noch immer gleich:
Anfang, Mitte und Ende.
Exposition, Peripetie und Dénouement.
These, Antithese und Synthese.
Morgen, Mittag und Abend.
Diese Struktur hat sich über Jahrtausende gehalten und ist stets mit den Erzählformen der Menschen gewachsen. Auch als vor rund 50 Jahren die Trilogie als erzählerische Einheit entsprang, war sie doch nur Abbild dieses Gedankens. Zwar bemängelt jeder mal gerne die meisten mittleren Teile und ihre schwierige Position, eigentlich weder neue Fässer aufmachen, noch alte Stränge abschließen zu können, weil ja noch ein dritter Teil her muss – und doch ist alleine der schiere Mangel an populären erzählerisch kohärenten Zweiteilern Zeugnis davon, wie sehr wir so etwas lieben: Anfang, Mitte und Ende.

Und dann kamen Marvel und Netflix

Doch die Zeiten scheinen sich zu wandeln. Neben diesem schönen Sonnenuntergang ist mein zweiter Auslöser für diesen Artikel die nebenstehende Schlagzeile gewesen. Marvel, der bei aller Kritik nach wie vor unangefochtene König der Kinokassen, rechtfertigt sich dafür, dass es beim nächsten Black Panther nur eine Post-Credits-Sequenz gibt.
Und dabei ist die Existenz dieser Sequenzen nüchtern betrachtet eigentlich etwas, was beim Publikum Skepsis auslösen sollte; nicht aber deren Abwesenheit.
Die Post-Credits-Sequenz zerschmettert das Ende. Egal wie befriedigend oder unbefriedigend der narrative Abschluss des gerade Erlebten war – die Sequenz ist da um uns zu versichern: Das Ende ist noch nicht erreicht. Es geht weiter, bleiben Sie dran.
Vielen Dank für euer Vergnügen mit Black Panther 2, aber keine Sorge – MCU, Teil 30 wartet bereits am 17. Februar 2023 auf euch.
Die unaufhaltsame Content-Maschine lässt euch nicht mit Stich.

Anfang und Mitte und Mitte und Mitte

Ich habe ja schon zuvor hier und da darüber gesprochen, dass ich mit der aktuellen Entwicklung des MCU nicht zufrieden bin. Und ich denke viel hat damit zu tun, dass das Ende ausbleibt.
Endgame (MCU Teil 22, für jene die zählen) war ein Ende. Es war sogar so signifikant, dass ich eigens vor einer Weile hier sogar in höchsten Tönen lobend darüber geschrieben habe. Und ich stehe zu dem Artikel. Endgame war ein brillanter Abschluss … aber es geht danach halt weiter.
Selbst wenn wir die Maßeinheit noch mal erhöhen von Filmen zu Wellen, so war Endgame mehr oder weniger der krönende Abschluss von MCU Welle 3 – und selbst das funktioniert nach aristotelischer Sicht noch, so robust ist das Modell. Ein erster Akt, in dem vor allem die zentralen Akteure eingeführt wurden und der mit dem ersten Auftritt von Thanos endet, ein zweiter Akt, in dem aus all der Saat der vorigen Teile Konflikte geschöpft werden von Thanos‘ Plänen bis zu entfachten Konfrontationen innerhalb der Protagonisten und ein dritter Akt, in dem all diese Fäden zusammenlaufen und eine Auflösung erreicht wird.
Dennoch: Endgame war kein Ende. Jetzt nahen wir dem Abschluss von Welle 4 und ich kann jetzt schon sagen, dass Welle 6 und damit die zweite Saga am 1. Mai 2026 ihr Ende finden werden.
Saga. Die Maßeinheit eskaliert weiter und gleicht inzwischen einem Wechselkurs – eine MCU-Saga hat anscheinend drei Wellen, die ihrerseits 5+ Filme haben? Aber es verfängt (und Kultur ändert sich mit dem Zeitgeist natürlich auch; komme ich gleich noch mal drauf zurück). Eine von meinen Freunden zuletzt häufiger vorgebrachte Kritik gegenüber einzelner Filme oder Serienfolgen ist, dass sie die Gesamthandlung nicht vorangebracht hätten. Ich weiß nicht, wann unser Medienkonsum so ergebnisorientiert geworden ist, aber offenkundig ist das nun so.
L‘art pour l‘art scheint sehr weit entfernt und die unaufhaltsame Content-Maschine gewährt keine Gnade.

Enden sind gruselig schwer

Ich denke es ist notwendig, eine Sache noch anzuerkennen: Gute Enden sind verdammt schwer. Selbst wenn es nur um den Abschluss einer einzelnen, geschlossenen Geschichte geht, ist ein gutes Ende verdammt schwer. Es ist ein Drahtseilakt, das Publikum einerseits zu überraschen und andererseits nicht in seiner Erwartungshaltung zu enttäuschen; einerseits konsequent aus der vorangehenden Geschichte entwickelt zu sein und andererseits nicht zu vorhersehbar auszufallen. Das ist schwer.
Und es wird schwerer, je länger eine Geschichte läuft und je engagierter das Publikum ist. Denn je länger und tiefer dieses Engagement hält, desto steiler wird die Erwartungshaltung ausfallen, desto aufgeladener vom eigenen Wunschdenken fällt der Maßstab aus, nachdem die Fans das Werk beurteilen werden.
Scheinbar niemand misst Game of Thrones noch daran, dass es mehrere Jahre Must-See-Unterhaltung war, die gefühlt jeden an den Fernseher gefesselt und die Gespräche an den Kaffeemaschinen dominiert hat wie sonst höchsten ein Sport-Großereignis – was bleibt, ist das Ende, was mehrheitliches Missfallen geerntet hat.
The Rise of Skywalker hatte vermutlich auch niemals eine Chance. Als Finale einer von Grund auf unausgegoren gestarteten Trilogie zu fungieren wäre schwer genug gewesen, doch der Film muss sich letztlich der Erwartung stellen, einen sauberen Abschluss von gleich neun Filmen zu bilden und (bei Erscheinen) bis zu 41 Jahren an Zuschauerwünschen zu befriedigen. Ähnliches gilt für Jurassic World 3, auch wenn da vermutlich kaum jemand je nach einer weiteren Trilogie gefragt hatte.
Enden haben immer eine gewisse Zugkraft. Man will schließlich wissen, wie es endet – aber nicht nur, dass ein Ende der Geschichte halt im Zweifel auch ein Ende der Einnahmen jenseits der Backlist bedeutet, es ist auch der Moment, wo man die Karten auf den Tisch legen muss. Das macht es mindestens aus einer BWL-Perspektive durchaus nachvollziehbar, gar kein Ende zu wollen. Aus einer künstlerischen Perspektive hingegen halte ich es für unabdingbar. (Für die Videospieler unter euch: Return to Monkey Island hat dazu auch etwas deutliches zu sagen, auch wenn es vermutlich nicht jedem behagen wird.)

Warum ich darüber schreibe

Ich habe lange gezögert, einen Text wie diesen zu schreiben, denn zu groß die selbstkritische Sorge, nur ein alter Mann zu sein, der die Wolken anschreit. Und vermutlich bin ich das auch.

„Nein ehrlich, ich verstehe ja deine Bedenken, aber hör‘ mich an: Eine Terminator-Actionfigur. Die im Dunkeln leuchtet. Du weißt schon. Für die Kinder.“
(Ja, die ist echt; Kenner 1991.)

Aber das, was mich an der aktuellen Richtung stört und zu einem gewissen Maße auch sorgt, ist die Dynamik, die damit einhergeht. Wir erleben eine narrative Entwicklung, in der nicht mehr die Kunstschaffenden die Triebfeder sind. So ähnlich wie gerade Superhelden- und SciFi-Filme schon in den 90ern daran gemessen wurden, wie „toyetic“ ihre Designs sind – also wie leicht man daraus Spielzeug für kaufwillige Kinder machen kann – und auf ähnliche Weise, wie schon immer teils arg schrottige Begleitmedien zu den großen Blockbustern existierten, sehen wir auch hier, dass Medien nicht geschaffen werden, weil jemand was zu sagen hat oder weil jemand einer Vision folgt, sondern weil die immer-laufende Content-Maschine auch immerwährend Treibstoff braucht.
Das heißt natürlich auch: Im Grunde ist das alles nicht neu. Anders aber als in den Beispielen von einst sind die Firmen besser darin geworden, dem Markt das zu geben, was er will. Was dabei aber auf der Strecke bleibt, und was mittelfristig die Gefahr einer gewissen Verödung kreativer Unterhaltungsmedien birgt, ist der Gedanke, dass der Markt vielleicht gar nicht so genau weiß, was er gerne hätte, und er daher lieber Vertrautes vertilgt, anstatt ein Risiko einzugehen. Selbst wenn die meisten heute erfolgreichen Franchises auf den Risiken von einst errichtet wurden.
(Und ich möchte betonen, dass nichts was ich hier schreibe gegen das Kunsthandwerk der Machenden geht – ich bin sicher, all jene bluten nicht weniger für ihr Werk als irgendwer sonst. Aber um auch mal überspitzend ein anderes Beispiel zu bringen: Niemand dreht intrinsisch motiviert einen neunten Fast & Furious, weil er als getriebene Geist diese eine Geschichte einfach erzählen muss.)

Alle sind so

Was aber wichtig ist zu sagen: Auch wenn das MCU ein so dankbares Beispiel ist, weil all das nirgendwo so deutlich gezeigt werden kann, so ist es ja nicht das alleine. Und ich mag ja das MCU, mag Star Wars und Fast & Furious, all die Streaming-Serien und Videospiel-Reihen. Die machen Spaß und werden teils von absurd talentierten Menschen geschaffen. Aber ich gebe mich auch keiner Illusion hin, wer hier Vater des Gedankens ist.
Alles ist ein Franchise, kein Kino-Hauptgang ohne Streaming-Beilage, kein Videospiel ohne begleitenden Roman.
Alles ist ein Franchise, und alles dient dazu, die Augen an die IP zu ketten, ein Perpetuum Mobile der medialen Druckbetankung. Eine feingeölte Maschine, die nur dazu dient, euch vollzustopfen. Nicht zwingend für euren Genuss – sondern zur Aufrechterhaltung eures Konsums.
„Herzlich willkommen bei McContent, Ihr Bestellung bitte?“

Nicht alles ist verloren

Aber wie immer gilt: Kein Trend ist allumfassend, keine Entwicklung unumkehrbar. Streaming und die sich verändernden Seegewohnheiten haben uns vielleicht die unaufhaltsame Content-Lawine gebracht, aber eben auch in sich geschlossene Mini-Serien wie die Schlange von Essex oder Filme wie Everything Everywhere All at Once, die vermutlich mit den Produktionsmitteln von einst unmöglich gewesen wären. Generell ist das Niveau verfügbarer Medien immens hoch – und zwischen Selfpublishing für Autoren und Indie-Computerspielen gibt es auch vielleicht mehr Raum für Gegenkultur als je zuvor. Die rebellische Band von einst verteilt anno 2022 keine CDs mehr nach kleinen Konzerten, sondern erreicht mit dem Internet womöglich tausende Menschen in einem Augenblick. Und Typen wie ich können solch einen Quasi-Essay veröffentlichen, ohne dafür auf Magazine oder dergleichen angewiesen zu sein.
Wenn wir verhindern, dass nur die lauten Inhaltsfontänen belohnt werden und auch die kleineren Projekte Aufmerksamkeit erfahren, dann finden sich in den Fluten auch nach wie vor absolute Perlen.
Wir sollten uns all dessen aber bewusst sein, denke ich. Darum ging es in all diesen vielen Zeilen. Die Struktur des MCU ist, genauso wie die gesamte Infrastruktur der Streamingdienste, perfekt optimiert, uns mit Dauerbeschallung auszudröhnen.
Manchmal aber, manchmal müssen wir glaube ich einfach diese Zyklen durchbrechen und auch mal dort lauschen, wo die leiseren Töne weiter vorherrschen.
Manchmal müssen wir uns vermutlich einfach auch mal auf eine einsame Bank im Wald setzen und unseren Gedanken nachfolgen.

Die Sonne ist inzwischen beinahe untergegangen.
Dieser Tag endet, und es ist an der Zeit für mich, vom Berg zu klettern und heimzukehren, solange noch Licht da ist. Denn manche Dinge enden halt doch.
Und es ist gerade dieses Ende, was die Erfahrung ermessbar und wertvoll macht.

Viele Grüße,
Thomas

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