Hallo zusammen!
Gerade alles nicht so einfach, oder?
Als wenn die jahrelange Pandemie nicht schon gereicht hätte, trümmert nun auch noch die mediale Dauerbeschallung mit Meldungen vom Landkrieg in Europa auf uns ein … es erscheint mir manchmal schwer zu ertragen. Und bevor ich zum eigentlichen Thema heute komme, kurz in dem Sinne die Erinnerung, dass es okay ist, das Radio auch mal auszumachen, die Newsfeeds zu schließen und was Schönes zu tun. Ich sagte ja schon mehrfach, wir sind heute nicht zwingend besser informiert, nur mehr, und konstantes Neuladen des Ukraine-Newstickers wird den allermeisten Menschen, die hier mitlesen, am Ende nicht dienen. Macht euch nicht kaputt.
Okay?
Okay.
Was aber die aktuelle Krise mir brachte, war die Erinnerung an einen Artikel, den ich schon vor über einem Jahr schreiben wollte.
Damals hatte eine Bekannte einen gleichsam entwaffnend-direkten wie ungeschminkten Beitrag zum Thema ungewollter Schwangerschaftsabbrüche gepostet; etwas, wo ich wenig zu sagen kann. Doch demonstrierte der Beitrag eine Form offen gezeigter Verletzlichkeit, die mir tief imponiert hat. (Kein Link und kein Name, da der Beitrag nicht öffentlich ist.)
Ich hatte damals einen daran anschließenden Gedanken, kam aber nie dazu, den hier zu schreiben.
Der Gedanke kehrte wieder Mitte letzten Jahres, als die Flutkatastrophe große Teile meines Heimatortes (und vieler anderer Gegenden, natürlich) verwüstet hat – und dann waren am Ende doch wieder andere Dinge wichtiger, als hier davon zu schreiben …
Generell sind es derzeit gefühlt für mich anstrengende Jahre. Todesfälle, Pandemie, die Flut, jetzt eben die Sorgen die an dem Krieg in der Ukraine hängen, aber ebenso etwa die Herausforderungen, die ein Beruf mit Verantwortung auch für andere Menschen mit sich gebracht hat.
Und je mehr ich mit Leuten über diese Themen rede, je mehr ich auch beobachtet habe wie andere Leute selbst darüber sprechen – noch während sie mit etwas ringen oder auch danach –, desto mehr komme ich zu der kryptischen These, die auch diesem Artikel vorangeht: Wir, wir alle, wir sind Kintsugi.
Wie meinen?

Und jetzt muss ich vermutlich ausholen.
Kintsugi ist in erster Näherung eine japanische Reparaturtechnik, in der Keramik geflickt wird, jedoch auf eine explizit nicht spurlose Weise – silberne oder goldene Verbindungen rücken die Scherben, die wieder zusammengesetzt wurden, sogar auffällig ins Licht.
Wir könnten jetzt ausführlich über Zen, die Edlen Wahrheiten des Buddhismus, die Ästhetik des Wabi-Sabi und die Schönheit des Imperfekten reden – aber machen wir es uns wie so oft hier mal gerade eben noch vertretbar einfach: Etwas Zerbrochenes wird repariert – und trägt die Spuren des Bruches anschließend nicht mit Scheu oder Scham, sondern mit Stolz in die Welt.
Ich will auch, bevor wir nun weiter ins Thema vordringen, ganz klar sagen, dass das nicht in irgendeiner Weise meine pure, eigene Transferleistung ist. Tatsächlich ist die philosophische Komponente hinter der Technik – also dass die Bruchstellen und Reparaturen untrennbar Teil der Geschichte eines Objekts sind – Jahrhunderte alt, wenigstens im asiatischen Bereich. Auch die Übertragung auf Menschen – die Analogie von zerbrochener Keramik und den Scherbenhaufen unserer seelischen Verfassung – ist nun eine Idee, die vor mir viele andere hatten. Dennoch fand ich es wert, hier einmal die Brücke zu schlagen von diesen eher abstrakten Ideen hin zu der Alltäglichkeit unserer Leben.
Hurt
Aber statt jetzt erneut eines der obigen, aktuellen Beispiele zu nehmen, versuchen wir es mal mit etwas anderem: das Lied Hurt.
Das von Trent Reznor geschriebene Lied aus dem Jahr 1994 scheint mir heute vor allem dazu zu führen, dass Leute darüber diskutieren, ob das Nine-Inch-Nails-Original besser oder schlechter sei als die Coverversion von Johnny Cash.
Für mich persönlich gilt aber: Das Lied begegnete mir mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Erscheinen und es holte mich zu einem Zeitpunkt ein, an dem ich emotional an keinem gesunden Ort war. Das Studium zermürbte mich, Zukunftsangst schabte mit blanken Fingernägeln an mir und die ersten Jahre alleine zu leben im nahen und doch fernen Aachen, all das hatte definitiv einige Keramik zerschlagen.
Ich hatte nie Gedanken über Selbstverletzung, wie man sie in den Liedtext lesen kann, aber die Stimmung des Liedes traf mich massiv. Es war ein wenig, als wenn die Musik ausdrücken könnte, wofür mir Worte fehlten.
Die Dinge blieben nicht so. Ich fand aus dem Tief, nicht zuletzt dank toller Menschen um mich, wechselte bald im Studium in die Philosophie und von da war’s eigentlich eine relativ geradlinige Peilung dorthin, wo ich heute bin; zumindest wenn man mit genug Abstand darauf schaut.
Hurt aber ist mir geblieben. Es ist eine Erinnerung; keine schlimme Erinnerung, nichts was mich zurückwerfen würde, aber es ist eine Erinnerung daran, wo ich mal war. An Last, die ich ertrug und an Menschen, die damals für mich da waren. Die Scherben wurden verklebt, aber das Lied ist – rein für mich – selbst zu einem Teil der sichtbaren Klebefuge geworden.
Wir alle
Uns geht es allen so, behaupte ich. Nicht spezifisch mit dem Lied natürlich, aber mit Erfahrungen, die wir machen. Sogar für Trent Reznor gilt das, denn der war bei der Entstehung des Songs an einem noch viel, viel dunkleren Ort als ich – und hat ebenfalls bewundernswert den Weg von dort heraus gefunden. (Die Netflix-Serie Song Exploder hat übrigens eine Folge zu Hurt mit Reznor gemacht, die ich absolut brillant fand.)
Wer nur alt genug wird, wird früher oder später durch tiefe Täler wandern. Das gehört zum Leben.
Aber dieser letzte Satz, den ihr gerade gelesen habt, ist weniger selbstverständlich, als er erscheinen mag: Es gehört zum Leben.
Wir sind inzwischen so darauf gedrillt, unsere Leben in einer unerreichbaren Perfektion zu inszenieren. Online ohnehin, aber selbst im
Alltag gilt das. Das ist auch die Kehrseite aller „du kannst alles erreichen, wenn du nur willst“-Botschaften, selbst wenn man wie ich aus eher privilegierter Position startet. Zum einen kann man nicht, und zum anderen verschweigt es die Dornranken entlang des Weges.
Verletzlichkeit ist darum etwas, was viele nicht wagen zu zeigen – in allen genannten Beispielen. Schließlich wollen wir ja genauso intakt erscheinen wie die anderen, selbst wenn wir tief in uns wissen, dass die auch alle ihre Kreuze zu tragen haben. Egal ob’s mit Problemen bei Schwangerschaften, der zermarternden Kraft der Pandemie, mit Angst vor den Folgen des Kriegs oder auch schlichtweg dem manchmal kaum zu erklimmenden Steilhang des ganz normalen Alltags zu tun hat – man redet nicht gerne darüber.
Und das bedaure ich.
Wir feiern durchaus Künstler dafür, wenn sie sich auf solch eine Weise versehrt zeigen, das gilt beim Beispiel von Hurt für Reznor wie für Cash. Warum wir die gleiche Form von Zeichnung nicht in der je größten Performance unseres Daseins – jene, die wir Leben nennen – ebenso achtbar finden, entzieht sich mir. Also klar, es liegt daran, weil wir alle emsige Zahnräder im großen System sein wollen; aber das verschiebt die Frage des „Warum?“ ja nur eine Ebene nach oben. Es ist nur eine der vielfältigen Ausprägungen des Venn-Diagramms, das mir ein Kumpel die Tage zeigte.
Denn am Ende ist es doch nicht nur so, dass wir geklebt und neu zusammengefügt werden können, sondern dass es gerade diese Spuren sind, die unseren ganz individuellen Reiz ausmachen.
Und ja, es ist an dieser Stelle auch wichtig anzuerkennen, dass sich das in extremen Formen, wenn wir von schweren Traumata reden, oder von Krankheiten, die kaum Lebensqualität lassen, noch mal anders darstellt. Das will ich hier mit keinem Wort relativieren. Ich rede von dem Hagelschlag des ganz alltäglichen Lebens in unserer entrückten Zeit – der reicht ja auch schon, um Scherben zu hinterlassen.
Jeder von uns verirrt sich im Laufe seines Lebens in dunklen Labyrinthen. Manchmal finden wir alleine heraus, manchmal brauchen wir Hilfe – doch auch dies ist Teil dessen, was wir sind.
Niemand bleibt vollauf intakt über die Dauer seines Lebens. Doch dieses wilde Flickwerk, was am Ende entsteht, das ist es, was wir sind.
Und wenn ihr mich fragt, ist dieses Flickwerk wunderschön – und es verdient, anerkannt zu werden.
Viele Grüße,
Thomas
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