Hallo zusammen!
Ich kam die Tage im Gespräch mit einer Bekannten auf einen Punkt zu sprechen, den ich inzwischen quasi zu meinen fundamentalen Grundannahmen zählen würde, den ich hier aber glaube ich noch nie thematisiert habe. Also … ändern wir das doch mal.
Steile These: Wir haben alle keinen Plan.
Auch all die Leute, von denen man annehmen mag, dass sie die ganze Nummer durchschaut haben – all die Lehrer, die Ärzte, die Anwälte, die Intellektuellen –, am Ende des Tages stehen wir alle immer wieder da und stellen fest, dass wir nicht wissen, wie wir mit bestimmten Situationen umgehen sollen. Keiner von uns hat die Komplettlösung für dieses Ding, das man Leben nennt, und Unsicherheit ist untrennbar Teil des Programms.
„I am the vice president of panic“, schreibt Paige Lewis, „and the president is missing“.
Die Zeile aus ihrem Gedicht On the train, a man snatches my book ist eingängig, finde ich, drückt ein Gefühl aus, das wohl die meisten Menschen schon mal gespürt haben.
Und versteht mich dabei nicht falsch – natürlich fassen wir Pläne. Wir planen die Struktur fürs nächste Meeting, wir planen das Essen für die kommende Woche, wir planen den nächsten Urlaub.
Natürlich gibt es auch Leute, die zu einzelnen Wissensgebieten mehr beisteuern können als andere. Natürlich gibt es Fachleute, Wissenschaftler, Experten und natürlich sollte man auf die hören.1
Natürlich gibt es auch Leute mit Routine in der Umsetzung von Aufgaben. Menschen, für die mit ihrer langjährigen Praxiserfahrung Dinge trivial geworden sind, die für mich oder andere eine immense Herausforderung wären.
Es geht mir nicht darum, Leuten Kompetenzen abzusprechen.
Es geht mir um etwas anderes: Niemand von uns ist kompetent in allen Dingen. Für jeden von uns gibt es tausende Dinge, bei denen wir improvisieren müssen, bei denen wir es uns vielleicht nicht anmerken lassen, aber wo wir eigentlich auch keinen wirklichen Plan haben, was wir da gerade tun.
„People don’t want their lives fixed“, schreibt Chuck Palahniuk in seinem Roman Survivor. Und weiter: „Nobody wants their problems solved. Their dramas, their distractions. Their stories resolved. Their messes cleaned up.“ Mein 16jähriges Ich war ganz begeistert von der schroffen Anmut dieser verbitterten Perspektive. Mein fast 40jähriges Ich ist von dem darauf folgenden Satz viel, viel faszinierter: „Because what would they have left? Just the big scary unknown.“
Dieses unheimliche Unbekannte ist etwas, dem wir uns im letzten Jahr viel öfter ausgesetzt sahen als lange zuvor. Und es ist etwas, das, wenn wir nicht einen Weg finden, zumindest irgendwie unseren Frieden damit zu machen, uns alle zu verschlingen vermag. Wir haben alle keine Anleitung fürs Leben. Und gerade dann, wenn wir aus unserem Trott ausbrechen, wenn die Routinen des Alltags versagen, tritt das zutage – wenigstens für uns.
Liebe. Freude. Freundschaft. Enttäuschung. Lust. Trauer. Tod.
Keiner von uns hat eine Anleitung.
Und dennoch ist es wie ein stillschweigendes Abkommen in unserer Gesellschaft, dass wir versuchen, uns das nicht anmerken zu lassen. Erwachsene haben im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen definitiv nicht alle Antworten aufs Leben gefunden – sie haben nur gelernt, mit dieser „Antwortlosigkeit“ zu leben. Viele haben gelernt sie zu verdrängen … und manche arbeiten daran, zu lernen, sie bewusst mit offenen Armen zu empfangen.
„Excuse me sir, can you help me out? I wanna bake a cake but I don’t know how“, heißt es in dem Lied Easy Day der Bananafishbones. „No I don’t“, antwortet das lyrische Ich, „but I’m sure I will.“
Der Gag an der Zeile ist, dass sie offen ans Licht bringt, was wir stillschweigend alle wissen.
Wir haben alle keinen Plan.
All das hat dabei im übrigen auch gar nichts mit Handlungsfreiheit zu tun – von der ich persönlich ziemlich überzeugt bin, dass wir sie haben, die aber philosophisch ein so heißes Eisen ist, dass es vermessen wäre zu glauben, dieser Nebensatz alleine wäre eine ausreichende Behandlung des Themas.2
Wir verfügen grundlegend über eine wirkmächtige Handlungskompetenz in unserem Leben – und damit einher geht eine Verantwortung für die sich daraus ergebenden Konsequenzen.
Wir haben all dieses Potenzial zu handeln – wir wissen halt nur alle nicht, was wir tun.3 4
Aber wenn wir alle nicht wissen, was wir tun, wenn wir akzeptieren dass die anderen genauso schlingern wie wir und wenn wir das alberne Jingle aus Fußnote 3 sozusagen als Mantra nehmen, dann folgt daraus letztlich, dass es vermutlich angemessen ist, mit den Menschen, die uns begegnen, nachsichtig zu sein. Denn egal welchen Anschein es macht – die haben halt auch keinen Plan und improvisieren sich den Tag auch zusammen.5
Man kann das nun als desillusionierendes Ding sehen, als Ausdruck einer Art nihilistischen Fatalismus‘. Wer sich nach einer starken Person sehnt, die einem die Probleme des Lebens entfernt, oder die wenigstens Antworten auf all die schier unlösbaren Fragen hat – und das meine ich erst mal gar nicht wertend, das ist eine nachvollziehbare Intuition –, dann ist dieser Gedanke vermutlich einer von abgrundtiefem Schrecken.
Aber eigentlich ist es etwas, was uns zueinander gleich und miteinander verbunden macht.
Wir haben alle keine Ahnung, was wir tun – aber das heißt auch, dass wir es uns gemeinsam erarbeiten könnten. Es braucht einzig den Willen, sich die eigene Verwundbarkeit einzugestehen und diese gegenüber anderen zuzulassen, damit wir gemeinsam einen Weg durch den Irrgarten der conditio humana suchen können.
Wir müssen es nur zulassen.
Viele Grüße,
Thomas
- Und ja, das gilt ganz explizit in der Pandemie und das gilt ganz, ganz explizit beispielsweise auch fürs Impfen. Bevor mir hier am Ende irgendein Impfgegner auf die Idee kommt, in mir einen Verbündeten zu sehen. Nope. ↩
- Achtet aber mal drauf, wenn ihr Leuten begegnen solltet, die die Existenz einer gegebenen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit in Frage stellen, aus welcher Motivation heraus es erfolgt. Es gibt da spannende Konzepte, die man diskutieren kann. Man kann den Gedanken aber auch einfach als Schild verwenden, als Ausrede, um zu versuchen, sich selbst aus moralischen Verpflichtungen zu entbinden. ↩
- Nichts hat das so perfekt für mich eingefangen wie dieses kleine, gerade mal sieben Sekunden lange Jingle. ↩
- Neben all der zitierten literarischen und popkulturellen Vergnüglichkeiten muss man natürlich auch sagen, dass meine These hier im Kern auch nicht weit vom sokratischen „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ entfernt ist. Insofern … lest euren Platon, liebe Leute, aber vielleicht noch griffiger: Lest euren Karl Popper. Auf der Suche nach einer besseren Welt ist ein Buch, das ich mir auch dringend noch mal auf den Nachttisch legen sollte. ↩
- Was nicht bedeutet, dass es nicht durchaus willentlich schadhaft handelnde Menschen gibt. Natürlich. Im Kern ist es einfach mal wieder ein Plädoyer für Henlon’s Razor: Erklärt nicht mit Bosheit, was mit Unbedachtheit hinreichend zu erklären ist. ↩
„Ich weiß es nicht!“ ist der schönste Satz. Er befreit vom Wissen-müssen. Ich weiß es auch nicht. Und das nicht-wissen konfrontiert uns alle wieder mit etwas verloren gegangenem in dieser hoch technisierten und „aufgeklärten“ Zeit: dem Vertrauen.
Ich kann nur zustimmen!
Auch und gerade wegen der Anführungsstriche um „aufgeklärt“ – es ist für mich wirklich schwer zu begreifen, woher diese Tendenzen in unserer Zeit kommen, sich von Rationalität und klarem Denken abzuwenden. Das müsste ja auch kein Widerspruch sein zu dem Willen, einander wenigstens grundlegend erst einmal zu vertrauen.
Viele Grüße,
Thomas
Ja man wundert sich dieser Tage nur noch … erstaunlich, was es alles so gibt :) Viele Grüße zurück !