Hallo zusammen!
Während ich an meiner Abschlussarbeit für die Uni saß, verfasste parallel eine gute Freundin von mir ihrerseits in ganz anderem Fachgebiet, Biologie nämlich, ebenfalls eine. Wir haben uns, obschon halt fachfremd, die Zeit über sehr viel ausgetauscht, oft in Cafés, einfach um auch mal eine Flucht vor der omnipräsenten Aufgabe zu haben.
Was uns dabei aber beiden auffiel, war, dass das mit der Flucht gar nicht so einfach ist und die Omnipräsenz wirklich ausgeprägt. Man kennt das ja auch aus anderen Umständen – wer beispielsweise für eine Klausur lernt, läuft oftmals geradezu über vor lauter Fachwissen. Fragt man ihn zwei Wochen nach der Prüfung noch mal, scheint ein beträchtlicher Teil der Informationen wiederum wie ausradiert.
Aber wie kommt das?
Ich hab mich seinerzeit mal daran gemacht und ein wenig recherchiert. Auch das, ein wenig der vergebliche Versuch einer Gedankenflucht. Und bin dabei tatsächlich auf ein gleichermaßen tolles wie heute leider auch schon wieder sehr umstrittenes Erklärungsmodell gestoßen.
1927 studierte die im heutigen Litauen geborene Psychologin Bljuma Wulfowna Seigarnik an der Universität Berlin. Sie studierte bei Kurt Lewin, der ja nicht irgendwer ist sondern maßgeblich zur Etablierung von Sozialpsychologie, Gestaltpsychologie und Feldtheorie beigetragen hat – und es war auch durch Lewin, dass Seigarnik in eben jenem Jahr auf das Phänomen aufmerksam wurde, dass Kellner sich noch unbezahlte Bestellungen besser merken konnten als jene, die schon beglichen waren.
Was folgte, waren weitere Untersuchungen, an deren Ende der titelgebende Zeigarnik-Effekt stand – die Verschiebung von Z und S beim Namen hier resultiert aus abweichenden Übertragungen der Schreibweise in unser lateinisches Alphabet –, der grundlegend folgendes Phänomen umriss: Eine unterbrochene Aufgabe sitzt prägnanter in der Erinnerung als eine abgeschlossene, selbst wenn letztere beispielsweise weit mehr Zeit in Anspruch genommen hat. Erklärt wird es nach Lewin und gemäß der Feldtheorie so, dass die angefangene Arbeit eine rein auf die Aufgabe bezogene Spannung aufbaut, die erst abfällt, wenn diese Aufgabe erledigt ist. Diese Spannung erleichtert einen kognitiven Zugang zu den relevanten Informationen und im Falle einer Unterbrechung, zusammen mit dem nicht eintretenden Spannungsabfall, bleibt dieser erhöhte Zugang erhalten. Die entsprechende Studie von Zeigarnik kann man sogar heute frei im Internet als PDF-Datei herunterladen.
Ein wenig Gesellschaft erhielt Seigarnik noch von Kollegin Maria Ovsiankina, die ebenfalls zu der Zeit bei Lewin lernte und dann im Folgejahr ihr Doktorat an der Uni Gießen antrat. Der nach ihr benannte Ovsiankina-Effekt beschreibt eine Tendenz, unterbrochene Handlungen wieder aufnehmen zu wollen, wenn das Handlungsziel nicht erreicht werden konnte. Auch das lässt sich mit dem Spannungsverhältnis erklären, fügt sich also – eingedenk der gemeinsamen Lehre nachvollziehbarerweise – gut in das Gesamtbild von Feldtheorie bis Zeigarnik-Effekt ein.
Nur gibt es leider ein Dilemma: Die Reproduzierbarkeit.
In nachfolgenden Untersuchungen zeigte sich nicht nur, dass es teils schwierig ist, unter vergleichbaren Versuchsbedingungen zu den gleichen Ergebnissen zu kommen wie Seigarnik, sondern teils sogar das genaue Gegenteil eintrat. Da wird es dann richtig kompliziert, da eines der Erklärungsmodelle war, dass die Probanden der Versuche, bei denen die Erinnerung an die gelösten Aufgaben besser war, einem geistigen Selbstwertschutz unterworfen waren – das Vorhandensein ungelöster Aufgaben steht im Konflikt mit einem möglichst positiven Selbstbild –, was aber natürlich die Anzahl der zu untersuchenden Faktoren erheblich erhöht.
Zusammengefasst kann ich natürlich auch kein Urteil fällen; es kommt erschwerend hinzu, dass ich zwar über das Philosophie-Studium Grundzüge der Psychologie gelernt habe, aber nun weiß Gott kein Psychologe bin, nicht mal annähernd.
Aber, und das war auch mein Hauptbeweggrund zu diesem Beitrag, mir hat es seinerzeit tatsächlich geholfen zu wissen, dass es offenbar durchaus ein Phänomen ist, das offenbar schon in den 1920ern für Furore gesorgt hat. Alle drei Namen, Lewin, Seigarnik, Ovsiankina, sind ziemlich gute Sprungbretter für ein bisschen eigene Lektüre, wenn einen die grundlegende Problemstellung interessiert und/oder betrifft, und alles in allem ist es, ob nun präzise richtig oder nicht, vielleicht auch ein ganz guter Hebel, um individuell ein bisschen zu begreifen, was in einem in solchen Situationen wohl so vorgeht.
Nächstes Mal schreibe ich trotzdem wieder von etwas, wovon ich wirklich Ahnung habe.
Viele Grüße,
Thomas