Die Fußnoten des frühen Neuromancer

Hallo zusammen!

Irgendwie hat es sich so ergeben, dass ich die letzten Jahre, Jahr für Jahr, William Gibsons Romantrilogien nochmal gelesen habe. Erst die Bridge-Trilogie, dann die Blue-Ant- bzw. Bigend-Trilogie und dieses Jahr halt seine Erstlinge, die Sprawl-Trilogie.
Deren erster Teil, Neuromancer, ist 1984 – also vor 41 Jahren (!) – erschienen und es freut mich direkt vorab schon mal festhalten zu können, dass es auch heute noch ein phänomenales Buch ist.
Und ja, wie so oft bei älterer SciFi sind einige Sachen – wie beispielsweise die 3 Megabyte „heißer“ RAM als Hehlerware – putzig gealtert.1 Andererseits überrascht einen das Buch dann mit solchen Details wie der Differenzierung in ‚echte‘ Künstliche Intelligenz mit Bewusstsein und solche, die zwar sehr effektiv so tut, aber eigentlich nur bekannte Infos neu äußert – und das ist heute aktueller als damals.
Aber so phänomenal Neuromancer ist, es ist zugleich kein leicht zu lesendes Buch; ein Roman, der eine sehr komplexe Zukunftsvision sehr dicht komprimiert auf verhältnismäßig wenigen Seiten präsentiert und dabei keine Gefangenen macht.

Das obere Buch ist die deutsche Ausgabe, auf die ich mich hier durchgehend beziehen werde. Das darunter die englische Ausgabe von 2016, die ich gerade lese.

Viele, viele Fußnoten

Dass das kein einfaches Buch ist, das wiederum dachte sich entweder der Heyne Verlag oder Übersetzer Reinhard Heinz damals auch – und ergänzte in der deutschen Ausgabe Fußnoten, die es auf Englisch so nie gab. Fußnoten. Viele Fußnoten.2
So lernen die Lesenden, dass Sushi ein japanisches Reisgericht ist (S. 28), dass die hier schon erwähnten Megabyte eine Maßeinheit für die Speicherkapazität eines Computers sind (S. 36) und dass es sich bei Moiré um ein störendes Muster in einem Fernsehbild handelt (S. 279).

Und das alles ist schon ungewöhnlich.
Ja, generell waren früher die Freiheiten im Bereich von Übersetzungen oft noch viel, viel größer. Viele vor 40 Jahren noch geläufige Eingriffe sind heute – in Zeiten eng abgestimmter internationaler IPs – völlig unvorstellbar. Ein gutes Beispiel für diese Kategorie heute unbegreiflicher Praktiken sind die teils wilden Kürzungen, aufgrund derer in manchen Phantastik-Reihen auf Deutsch alle Titel 160 Seiten hatten, völlig ungeachtet der Frage, wie lang das Orginal war.3

Anti-Gibson

Was ich aber spezifisch hier so faszinierend finde, ist, dass diese Fußnoten in meinen Augen geradezu Anti-Gibson sind. Antithetisch dazu, wie er schreibt.
Eine der zentralen Qualitäten von Gibsons Romanen ist für mich, dass man sie sich erarbeiten muss. Gibson wirft einen mitten hinein in die Geschichte und überrollt einen mit einem Vokabular, das zu erschließen eine Aufgabe darstellt. Er unterrichtet einen in den Regeln seiner Welt durch die Darbietung seiner Geschichte, aber an keinem Punkt serviert er einem zugängliche, begleitende Erklärungen. Das Vokabular ist genug Meme, dass jemand einen „Lorem Gibson“ getauften Blindtextgenerator entworfen hat; die Komplexität seiner Romane ist etwas, was sich durch Besprechung um Besprechung zieht.
Zugänglichkeit ist eine Tugend, das stimmt natürlich – garantiert sofern man aus heutiger, spätkapitalistischer Sicht auf erfolgreiche Marktplatzierungen, „sichere“ Veröffentlichungen und derlei blickt. Aber auf die gleiche Art, wie ein David Lynch ungern über die Bedeutung seiner Filme gesprochen hat, weil die Zuschauer sich die selbst erschließen sollten, und auf die gleiche Art wie ein Hidetaka Miyazaki verteidigt, dass FromSoftware bockschwere, nicht für jeden zugängliche Computerspiele macht, auf die gleiche Art sehe ich auch bei Gibsons Büchern einen Reiz in der Auseinandersetzung mit dem Buch. Man muss sich auf die Sprache, den Rhythmus, die Stimmung des Buches einlassen und aus dem anfänglichen Stirnrunzeln wird mit der Zeit Verständnis wachsen, vielleicht sogar ein Erfolgsgefühl.

Und all das ist etwas, was völlig unterwandert wird, wenn man den Lesenden eben nun doch solche Erklärungen liefert.
Ich bin unsicher ob der generische deutsche Leser 1994 – das Datum meiner Auflage – noch eine Erklärung gebraucht hätte, was Sushi ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten nicht wussten, was ein Sprawl sein könnte (auf S. 10 ein wenig verkürzt als unregelmäßiges Ballungsgebiet beschrieben). Und irgendwie ist es ein besonders bemerkenswertes Ding, wenn S. 108 erklärt, dass ROM für Read Only Memory steht und dass diese Speicher zwar ausgelesen, aber nicht überschrieben werden können. Bemerkenswert, weil es 1987 vermutlich noch Expertenwissen war, 2002 – als ich das Buch zum ersten Mal las – das gefühlt jeder zumindest in meinem Umfeld gewusst hätte, und dass es nun, 2025, wieder auf dem Weg ist, Expertenwissen zu werden, je weiter das Benutzen von Computern vom Verstehen von Computern fort driftet.

… und noch viel mehr

Aber nun gut, es könnte schlimmer sein. Es soll an dieser Stelle nicht mehr als eine Randnotiz darstellen, aber als 1988 dann die deutsche Ausgabe des zweiten Bandes der Reihe hierzulande erschien – Biochips, oder im Original Count Zero – mussten nicht nur die Leser, sondern auch ein angemessen entrüsteter William Gibson feststellen, dass der Heyne Verlag reale Werbung für Tütensuppen mitten in das Buch hineingeflochten hatte.
Anders kann man es nicht ausdrücken – es klingt absurd, es ist absurd, aber es war bei Heyne auch kein Einzelfall.4 Mitten in dem Roman, den man gerade las, fand man sich unvermittelt und nahtlos in einem Werbeblock für Maggis 5 Minuten Terrine gefangen.
Wie ich schon sagte: Es waren andere Zeiten – aber das war selbst für 1988 frech, wenn auch aus heutiger Sicht gerade drum ein bisschen kultig.

Was ich sagen will

Zurück zum Thema. Haben die Fußnoten den Roman also damals für mich ruiniert? Nein, keinesfalls. Aber ich glaube, sie sind ein schlussendlich unlauterer Eingriff in das, was der Text erreichen will – nicht in dem Sinne der Geschichte, die er erzählt; aber im Sinne der Art, wie er sie erzählen möchte.
Die Erkenntnis haben auch die deutschen Ausgaben erlangt, scheint es. 1996 erschien über Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins eine abweichende Übersetzung, laut Impressum von Reinhard Heinz und Peter Robert.5
Die erschien dann vier Jahre später auch wiederum bei Heyne, dort als „bearbeitete Neuausgabe“ ausgewiesen – und diese Fassung, die von Reinhard Heinz und Peter Robert, ist auch noch die Grundlage für die erst 2021 beim Tropen-Verlag erschienene, jüngste deutschsprachige Ausgabe.6
Und wie erwartet: All diese Neuausgaben, alles jenseits dieser ersten, initialen Heyne-Übersetzung von 1987, verzichtet auf diese Fußnoten.

Aus heutiger Sicht aber würde ich sagen, sind sie ein spannendes Relikt und eine Zeitkapsel hinein in eine ganz andere Ära. 1987 sind wir ja nur drei Jahre nach Erscheinen des englischen Originals, und dass es zu jener Zeit noch jemand für sinnvoll hielt, dem Leser Yakuza (S. 22) und Ninja (S. 105), Nunchaku (S. 42) und Pixel (S. 64) zu erklären, sagt uns eine Menge darüber, wie unfassbar seiner Zeit voraus und futuristisch Neuromancer damals war – was wichtig ist, da das Buch seinerseits so unglaublich prägend gewesen ist, dass vieles daran heute fast alltäglich wirkt.
Am Ende des Tages macht all das diese Ausgabe sogar zu einem perfekten Beispiel für den Wert physischer Medien. Niemand kann die 1987er-Ausgabe löschen oder patchen, aus Buchregalen delisten oder ersetzen. Zumindest solange Papier und Bindung halten, ist diese Zeitkapsel ein unverrückbares Artefakt und Zeugnis ihrer Epoche.
Und das ist dann wiederum irgendwie ironisch bei einem Buch, das den Begriff des Cyberspace prägte und die virtuellen Realitäten so sehr ins kulturelle Bewusstsein gehievt hat.

Viele Grüße,
Thomas

  1. Zur Referenz für die Computer-Unkundigen, mein fünf Jahre alter Mac Mini hat 8.000 Megabyte, und selbst das ist heute fast schon albern wenig. ↩︎
  2. Wie passend dazu, noch eine Fußnote! Um meine literaturwissenschaftliche Wurzel nicht vollauf zu vernachlässigen, alle einfachen Seitenangaben in diesem Artikel beziehen sich auf:
    Gibson, William: Neuromancer. München: Wilhelm Heyne Verlag 1987. Neunte Auflage von 1994. ↩︎
  3. Und auch abseits der Genre-Literatur gibt es sowas ja. Es wird mich ewig faszinieren, wie Eike von Savigny es geschafft hat, aus John Austins fluffig-lockerem How to do Things with Words das auch jenseits des Titels von allem Spaß befreite Zur Theorie der Sprechakte zu „übersetzen“. ↩︎
  4. Cory Doctorow, unter anderem Autor des bemerkenswerten Little Brother und Schöpfer des von mir sehr geschätzten Begriffs der Enshittification, hat auf BoingBoing dazu mal einen kurzen, aber auch kurzweiligen Artikel verfasst. ↩︎
  5. Ich weiß es natürlich nicht und alles in dieser Fußnote ist pure Spekulation, aber in dem Wissen, wie solche Angaben in Impressen manchmal zustande kommen, könnte ich mir vorstellen, dass hier de facto Peter Robert im Nachgang einmal gründlich über die bestehende Heinz-Übersetzung drübergebügelt hat, bis sie ihre heutige Form erreicht hat. Weiß ich aber nicht, vielleicht war’s auch eine ehrliche Kooperation zwischen beiden. In jedem Fall unterscheiden sich beide Varianten nachhaltig, auch über die Fußnoten hinaus, bereits ab dem allerersten Satz. ↩︎
  6. Ich besitze die Tropen-Ausgabe nicht, aber ich besitze die erwähnte R&B-Ausgabe von 1996 und zumindest soweit die Tropen-Leseprobe reicht, konnte ich keine Unterschiede entdecken. ↩︎

Ein Kommentar zu “Die Fußnoten des frühen Neuromancer

  1. hui, da kommt noch mehr von mir, da ich den Artikel noch Mal lese muss.

    kurz: Neuromancer fand ich …okay, ein bisschen zu kurz, den Rest der Trilogie so nervig, dass ich sie nicht abschloss. Zumindest ging es mir vor 10 Jahren so.

    Sollte ich vielleicht nochmal zu lesen versuchen, aber meine Liste ist noch zu lange

    Ich gehe davon aus, daß hier kein undifferenzierter Kommentar zu meinem Lesehorizont kommt, aber nur zur Sicherheit: Ich mag U. Eco und besonders sein „Foucaultsches Pendel“ …seit nun 30 Jahren immer wieder. Ich bin Leid gewohnt 🤣

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