Hallo zusammen!
1994 erscheint die zweite Auflage eines Buches namens Come As You Are. Michael Azerrad liefert mit dem Buch eine Biografie nicht nur einzelner Personen, sondern vielmehr der Band Nirvana ab.
Doch zwischen der Erstauflage 1991 und dieser von 1994 ist etwas Gravierendes geschehen und im Schatten des Selbstmords von Frontmann Kurt Cobain ergänzt Azerrad ein letztes Kapitel. Es ist mehr als 20 Jahre her, dass ich das Buch gelesen habe, aber der Schlussakkord ist mir nie aus dem Kopf gegangen. Azerrad beschreibt wie Cobain bei einem von dem Autor besuchten Konzert der Band, in einen Arztkittel gehüllt, Hand in Hand mit einem krebskranken Jungen, im Lichte eines einzelnen Scheinwerfers die Bühne verlässt und dann scheinbar, von einem Moment auf den anderen, verschwindet.
Es ist ein perfekter, dramatischer und halt ganz offenbar sehr einprägsamer Abschluss eines Narrativs, einer sinnstiftenden Erzählung (in diesem Fall biografischer) Ereignisse.
Und es ist aus diesen Gründen auch heimtückisch.
Wir Menschen denken in Geschichten. Geschichten sind, psychologisch gesehen, ein Werkzeug, das wir nutzen, um einer zutiefst chaotischen Existenz eine Form von Sinn zu verleihen. Das ist ganz normal.
Heikel wird es durch einen uns aber ebenso innewohnenden Trugschluss. Manchmal als narrative fallacy bezeichnet, neigen wir nämlich umgekehrt auch dazu, zu versuchen, die Wirklichkeit den Grundregeln vom Geschichtenerzählen zu unterwerfen – doch nicht immer ist jene Wirklichkeit so klar aufgebaut. Willkürliche Ereignisse gelten als schlechtes Storytelling, ein Mindestmaß an Ursache und Wirkung ist die Grundannahme; aber keine Grundannahme, der die Welt immer bereit ist zu folgen.
Das Buch-Ende ist auf vielen Ebenen erzählerisch super gewählt. Es ist ein metaphorischer Abschluss, der wesentlich würdevoller wirkt als jede Schilderung von Cobains Tod.1 Es ist für den Autor ein guter, persönlicher Schlussstrich, präsentiert als ein Bild, das er auch nicht aus dem Kopf bekam. Es hat ein Element von Güte durch den krebskranken Jungen und es hat, als Literaturwissenschaftler gesprochen, auch noch ein Bild von Reinheit und Unschuld in Form des Arztkittels.
Es scheint wie der logische Abschluss des Bildes, das in dem Buch von Cobain gezeichnet wurde, in dem eine gleichsam kreative wie gepeinigte Seele fast wie Ein Engel auf Erden fortgeht und die Welt zurücklässt.
Es ist aber auch, und das ist der wichtige Punkt, nicht das Ende von Cobains Leben gewesen. Es ist eine schlussendlich willkürliche Erinnerung, ein vom Autor gewähltes Schlaglicht, zeitlich, räumlich und Kausal getrennt von Cobains Tod.
Narrative dieser Art sind in gewisser Weise bedeutungsstiftend für unsere Wahrnehmung von Geschichte. Ich bin mir schon lange sicher, dass die starke Präsenz des zweiten Weltkriegs in Filmen, Romanen und Spielen, gerade gemessen im Vergleich zum ersten Weltkrieg, auch darin begründet ist, dass die intrinsischen Narrative so stark sind. Nazis sind die historischen Bösewichte (und halt auch in einem Maße böse wie es selten anzutreffen ist), der Zusammenschluss vom Rest der Welt um sie aufzuhalten ein sehr starkes Bild und selbst die historischen Persönlichkeiten sind oft sehr klar geschnitten.2
Gemessen daran ist der erste Weltkrieg ein grenzenloser Scherbenhaufen von einem Weltenbrand, der aus so vielen Richtungen und durch so viele Personen gleichzeitig in eine völlige Katastrophe geleitet wurde, dass es schwer ist, einen Faden zu weben.
Aber das sind alles historische Perspektiven. Versuche, mittels Erzählung die Vergangenheit in eine verdauliche Form zu bringen.
Es endet aber nicht mit vergangenen Tagen – auch unsere Wahrnehmung der Gegenwart wird immer wieder dadurch geformt. Und nirgendwo ist das für mich zuletzt so deutlich geworden wie beim Themenfeld Coronavirus3 4.
Et tu, brute, mögen nun jene denken, die das Thema nicht mehr hören können. Und glaubt mir, ich verstehe euch. Aber mich interessiert hier und heute gar nicht der Virus und was er macht, sondern was wir damit machen. Genauer, wie wir darüber reden.
Wer den Nachrichten dazu über diverse Quellen folgt, der liest unterschiedlichste Szenarien. Die Grippe-Analogien, Populär-Medien-Rückgriffe, Pandemie-Deklarationen, Artikel und Überschriften von absurdem Alarmismus, Infektionsquoten als so rasender Prozess, dass er Live-Ticker rechtfertigen soll, Schüren und Verurteilen von Massenpaniken und immer mal wieder das Bild der spanischen Grippe als einen (extrem bedenklichen) Versuch eines historischen Vergleichs. Oh, und weit weniger medizinische und wissenschaftliche Fachleute vor den Mikros als mir lieb ist, sicherlich auch, weil das dröflizgste fabrizierte Duell zwischen SARS-CoV-2 und Influenza zumindest einen Schleier hängen kann über die wissenschaftlich korrekte aber verunsichernde Wahrheit, dass diese Situation neu ist und wir vieles halt noch gar nicht wissen können.
Warum ist das interessant? Also gerade auch für mich und die Dinge, wie ich hier so schreibe?
Realität ist komplex. Narrative helfen uns, komplexe Fakten in verständliche Geschichten zu strukturieren – aber das beinhaltet immer eine Selektion und Ausrichtung (an und für sich neutraler) Fakten.
Und dieser Prozess erfolgt stets mit einer Agenda. Und hier gilt es schließlich, aufmerksam zu sein.
In diesem Punkt ist Corona gerade pointierter, aber auch typisch für viele Themen, die uns heute sorgen. Sei es die Flüchtlingskrise, Diskussionen über einen Rechts- oder Linksruck, sei es der Klimawandel oder eben Corona – es ist immer interessant zu beachten, wer spricht.
Man muss vorsichtig sein, um nicht zu weit in Aluhut-Territorien zu geraten, aber klar:
Ein Politiker möchte ggf. auch einfach an der Macht bleiben, an die Macht kommen oder aber jene an der Macht diskreditieren.
Eine Firma mag ihre wirtschaftliche Position schützen wollen in einer Phase der Unsicherheit. Auch Medienunternehmen sind solche Firmen und wollen natürlich auch weiterhin die Augenpaare auf sich gerichtet haben.
Fachleute wollen vielleicht die Fakten so herunterbrechen, dass jedermann sie versteht, schießen aber eventuell über das Ziel hinaus oder scheitern am Transfer.
Privatpersonen sind vielleicht auch einfach besorgt und möchten ihrer Sorge Ausdruck verleihen, ein Ventil, schüren ungewollt damit aber nur die Hysterie anderer.
All das ist normal, aber es ist ab und zu wert, es sich noch mal bewusst zu machen.
Viel prekärer ist aber ein anderer Faktor: Dieses Narrativ, das wir uns selbst aus unseren zu komplexen Eindrücken der Welt gebaut haben, es wird quasi ein Platzhalter für die Welt. Das Problem ist nur, dass dieses introspektive Spiel von Flüsterpost mit der Zeit dazu führt, das einstmals kleine Vereinfachungen, die uns beim Verstehen geholfen haben, uns nun mittelfristig an den Punkt bringen können, an dem neu hinzukommende Fakten nicht mehr passen bzw. nicht mehr zu passen scheinen.5
Ist COVID-19 nicht schlimmer als die Grippe? Ja, dann müssen alle anderslautenden Berichte Panikmache sein und Hysterie von Schneeflocken.
Ist COVID-19 die schwarze Pest des 21. Jahrhunderts? Na, dann kann die Fall-Sterbezahl vom RKI ja kaum stimmen, dann verheimlichen sie uns was, wollen die Schlafschafe ruhig halten.
Das wirklich traurige ist, mit welch messerscharfem Automatismus unser Hirn uns Rettungsanker baut, wenn wir drohen, unser Weltbild anzweifeln zu müssen.
Das ist psychologischer Selbstschutz. Aber in unserer komplexen Welt ist es auch fatal.
Kritisches Denken wird ja schon seit einer Weile (völlig zu Recht) als wichtige Tugend der Gegenwart hofiert. Wichtig ist aber dabei nicht nur, bloße Fakten kritisch zu hinterfragen. Auch der Kontext, in dem sie präsentiert werden, ist relevant. Und jener, in den wir sie dann in unserer eigenen Weltsicht einordnen.
Cobains Tod ist eine ziemlich schreckliche Angelegenheit, die zwar in Azzerads letztem Kapitel ihren symbolischen Abschluss erfährt, aber deren Konsistenz und Konsequenz nicht zuletzt nachträglich von jenen ins Bild gebracht wird, die es schildern. In Wirklichkeit verbleibt auch nach mehr als einem Vierteljahrhundert ein Kuddelmuddel aus Was-Wäre-Wenn-Fragen und schwer zu vereinbarenden Meinungen.
COVID-19 ist weder einfach nur die Grippe noch das Ende unserer Zivilisation, aber das heißt nicht, dass es nicht etwas dazwischen sein kann. Etwas Neue. Eine Disruption. Eine Graustufe. Und je eher wir das akzeptieren, desto eher haben wir eine Chance, die Welt ein wenig besser zu begreifen.
„Die Welt“, sagte ein Dozent mal zu mir, „ist voller Unsinn.“ Die Weisheit dieser Worte folgt mir Jahr für Jahr.
Viele Grüße,
Thomas
- Ich habe übrigens kein Interesse an der Diskussion, ob es Freitod oder Mord war. Es ist aber auch tatsächlich für diesen Artikel völlig unerheblich. ↩
- Mir ist klar, dass das stark vereinfacht ist und beispielsweise Facetten wie die europäische Tendenz den Krieg im Pazifik zu ignorieren sträflich ausblendet; aber erneut, auch darum soll es heute im Detail nicht gehen. ↩
- Einfach damit es gesagt ist: Dieses Blog ist keine Quelle für medizinische Ratschläge zum Thema COVID-19. Befolgt die offiziellen Weisungen, nehmt die Ratschläge wirklicher Gesundheitsexperten ernst, haltet euch an die Hygiene-Konzepte, bleibt wachsam; aber vermeidet Panik. Klar? Klar. ↩
- Es sei außerdem direkt betont, dass jede Kritik an den Narrativen, die den Coronavirus umgeben, in keiner Weise die Ernsthaftigkeit der aktuellen Situation in Frage stellen soll. ↩
- An dieser Stelle kommen konkret natürlich auch noch viele Faktoren ins Spiel, die ebenfalls einen Einfluss auf das Problem haben; logische Trugschlüsse etwa. Namentlich etwa die häufige Verwechslung von Kausalität und Korrelation, sowie das apeal to authority-Problem, bei dem wir dazu neigen, Möglichkeiten unbewusst als unzweifelhafte Sicherheiten begreifen. Aber das sprengt den Rahmen für heute. ↩
Pingback: Liebe in den Zeiten der Corona | Seelenworte
Pingback: Die Wiederentdeckung der Komplexität | Seelenworte