Seelenworte

Auswahl, Entscheidungen und der Tod der tausend Schnitte

Hallo zusammen!

Sung Kang als Han Lue in The Fast & the Furious: Tokyo Drift

In dem wegbereitenden philosophischen Werk The Fast & the Furious: Tokyo Drift äußert Filmfigur Han eine gerne zitierte These: „Life’s simple. You make choices and you don’t look back.“ (Quelle).
Und wie so vieles im Franchise ist auch dieses Zitat in meinen Augen gleichzeitig irgendwo dumm und irgendwo eben doch einen zweiten Blick wert.

Bringen wir den ersten Teil mal hinter uns:
Es ist alleine insofern „dumm“, als dass man es als flammende Bekundung zu einem bedenkenlosen Egoismus lesen kann. Man kann da eine krasse Rücksichtslosigkeit hineindeuten, im Sinne dass man halt tut, was man will, ohne für die damit verbundenen Konsequenzen geradezustehen. Ich glaube im Kontext von Film und Figur zwar nicht, dass das an der Stelle gemeint ist, aber ich will dennoch ausgesprochen haben, dass es in keinem Fall ist, was ich hier meine.
(Aber der Form halber: Noch im gleichen Dialog betont Han, wie die anderen Menschen um einen zum Ausdruck bringen, wie man selbst sein Leben lebt, insofern ist Egotismus wohl nicht das Ziel – aber damit ist es nun zumindest klar abgegrenzt.)

Auf der anderen Seite steckt da etwas drin, was sich zum Beispiel auch in der englischen Redewendung findet, dass es nichts bringe, wegen verschütteter Milch zu weinen – was geschehen ist, ist geschehen. Es ist nicht hilfreich, weder in der Sache noch für einen als Mensch, an etwas festzuhalten, was ohnehin unabänderlich in der Vergangenheit liegt. Was Sinn ergibt, ist weiterzumachen – und dieses Weitermachen bedeutet immer auch, die nächsten Entscheidungen zu treffen.
Im Grunde ist es ein Gedanke des Zen, der nicht weniger wahr geworden ist dadurch, dass er einem von hunderten Motivationspostern und Pinterest-Accounts entgegenschlägt: Die Vergangenheit ist vorbei (und in gewisser Weise eine Täuschung), die Zukunft ist noch nicht hier. Was wir tun, tun wir immer jetzt.

Entscheidungen sind teuer

Holen wir mal weiter aus: Der Preis der Freiheit ist ewige Wachsamkeit, da sind sich Thomas Jefferson und … ähem … Wing Commander 4 einig. Aber Freiheit hat noch einen anderen, hohen Preis: Entscheidung.
Nicht falsch verstehen – es ist ein hoher, aber sehr verdienter Preis. Was man dafür erhält, entlohnt mehr als ausreichend für die damit verbundene Bürde, dennoch muss man anerkennen: Freiheit bedingt Entscheidungen, und Entscheidungen sind anstrengend.
Nicht nur die großen Entscheidungen: Will ich diesen Job? Bin ich bereit, dorthin zu ziehen? Willst du mich heiraten?
Auch die vielen, vielen kleinen Entscheidungen im Laufe eines Tages kosten einen stets ein wenig Energie: Welche Socken trage ich heute, welches Shirt? Was frühstücke ich, was esse ich zu Abend? Was will ich zum Feierabend hin im Fernsehen schauen?
Man kann das auf die Spitze treiben und beispielsweise seine Kleidung soweit vereinheitlichen, dass dort keine Notwendigkeit der Entscheidung mehr besteht, wie ein Forbes-Artikel das vor elf Jahren im Bezug auf Steve Jobs und Albert Einstein berichtet hat. In jedem Fall aber: Diese Entscheidungen kosten uns.
Sie kosten nie viel, aber das hunderte Male pro Tag. Es ist, ganz sprichwörtlich, ein klassischer Tod der tausend Schnitte.

Nicht das, was ist, sondern das Was-Wäre-Wenn

Dabei ist es in erster Linie gar nicht das, wofür wir uns entscheiden, was uns stresst – es ist das, wogegen wir uns entscheiden. Oder vielmehr noch: Die Unsicherheit, ob nicht eine Alternative (noch) bessere Ergebnisse erzielen könnte. Es geht nicht allein darum, ob wir in dem Shirt gut aussehen, ob das Essen lecker oder der Film unterhaltsam ist. Es geht auch vor allem um die Sorge, ob wir in einem anderen Shirt womöglich noch besser aussähen, das andere Essen noch leckerer und ein anderer Film noch unterhaltsamer wäre.
Damit sind wir auch wieder bei FOMO, der fear of missing out, die der verheerende Triebmotor so vieler unserer modernen Online-Quellen ist. Und wir sind bei der allgemeinen Höher-Schneller-Weiter-Mentalität, die ebenfalls symptomatisch für unsere Gegenwart, und vor allem für unsere Leistungsgesellschaft ist. (Ihr wisst schon, wenn Firmen sich nicht fragen, ob sie genug verdienen, sondern wie sie des ungeachtet noch mehr verdienen könnten, und so weiter.)
Es ist zudem der Pfad zur Entscheidungsparalyse. Wer schon mal abends vor Netflix oder einem anderen Streaming-Anbieter seiner Wahl gesessen hat, um erst eine lange Zeit auf die Auswahl zu starren und dann wahlweise doch wahllose YouTube-Videos oder irgendeinen vertrauten, altbekannten Film angesteuert zu haben, der kennt den Gedanken. Und so vieles in unserer Welt birgt inzwischen dieses Risiko.

Minimalismus?

Ein Weg, dem zu begegnen, ist Minimalismus. Dazu gibt es ja inzwischen unzählige Online-Quellen, Kurse, Selbsthilfebücher und Gurus, und ich bin sicher, für manche Menschen ist das genau der richtige Weg. Für mich nicht.
Das beginnt damit, dass ich alte Einrichtungen mag. Nicht die geraden Kanten skandinavischer Möbel in klaren, weißen, leeren Räumen, die irgendwie nahezu immer mit diesen Strömungen einherzugehen scheinen. Hier bei mir stehen dunkle, alte Holzmöbel unter holzvertäfelten Decken und das ist zwangsläufig wuchtig, es zieht Aufmerksamkeit auf sich – und es ist genau, was ich möchte.
Wer mich kennt, weiß zudem, dass ich eine Sammlernatur bin. Habe ich mehr Bücher, als ich vermutlich je lesen werde? Sicherlich. Habe ich Materialien für mehr Handwerksprojekte hier um mich, als ich realistisch in den kommenden Monaten bis Jahren werde angehen können? Absolut!
Über Sammlertum, auch über die Grenzen von kuratierten Kollektionen vs. Hoarding, darüber werde ich mal ein anderes Mal schreiben, denke ich. Vielleicht würde Marie Kondō mir widersprechen, aber ich bin gerne in meiner vollgeräumten Bibliothek, zwischen den inzwischen recht verwinkelten Regalreihen und inmitten all der Bücher, die nur auf mich warten.
Wichtig aber ist, auch im Lichte dieses Artikels, dass ich mich davon nicht stressen lassen möchte. Ebensowenig wie von der ewigen Frage, was es heute zu essen gibt, oder was diese Woche für ein Film an der Reihe sein könnte – aber auch, welcher Blogartikel hier als nächstes auf dem Plan steht, welche anderen Projekte als nächstes angegangen werden sollten.

Weniger Optionen für mehr Ruhe

Ein guter Ansatz, in meinen Augen, ist dennoch die konkrete Anzahl Optionen in jedem gegebenen Augenblick zu reduzieren. Es ist völlig unmöglich, sich zwischen 100 Optionen zu entscheiden. Aber es ist relativ unproblematisch, eine Vorauswahl daraus zu treffen – insbesondere wenn die finale Entscheidung nicht auch gerade akut anliegt. In diesen losgelösten Momenten kann man einfach mehr oder weniger wahllos 10 der 100 Titel hervorholen – physisch als Stapel oder abstrakt als Liste. Dann sind es auf einmal auch nur noch 10 Optionen, zwischen denen man konkret als nächstes wählen muss, und das ist viel einfacher. Die restlichen 90 sind ja nicht verloren, und für jede Option, die abgehakt wird, kann eine andere nachrücken. Aber nie muss man zwischen allen wählen.
Haltet diese Vorauswahl klein. Eine Vorauswahl von 100 aus 1.000 Optionen bringt euch gar nichts. Und vertraut später darauf, dass ihr schon einen Grund hattet, diese oder jene Option auszuwählen.

Wir hatten das hier im März schon mal – ihr werdet in diesem Leben nicht all das lesen, spielen oder schauen können, was ihr wollt. Lasst das einsinken, wartet den Moment der existenziellen Panik ab – und dann atmet auf.
Denn wenn jede Form von Komplettismus als Ziel wegfällt, dann wird zwangsläufig immer deutlicher, dass es gar keine richtige Entscheidung geben kann.
Es bedarf nur einer Entscheidung. Treffen und weitermachen.
Wichtig ist, das gilt als Prinzip nicht nur für Medien, das gilt für so vieles im Alltag. Ganz platt: Ich schreibe normalerweise freitags einen Speiseplan für mich für den kommenden Intervall Montag bis Sonntag. Und klar, manchmal halte ich mich später dann auch nicht dran und habe jetzt halt Lust auf Sushi, aber dann ist es in diesem Moment auch keine Entscheidung, dann weiß ich ja, was ich will. Doch wenn ich nach einem langen Arbeitstag ohnehin schon recht ausgelaugt bin, dann muss ich mich nicht mehr lange fragen, was ich heute essen könnte. Im Zweifel: Was der Plan sagt.
Mein Vergangenheits-Ich wird sich etwas dabei gedacht haben.

Spontanität muss ich planen

Zu einem gewissen Grad ist Spontanität natürlich auch immer eine Sache der Veranlagung. Ich bin kein sehr spontaner Mensch, bin ich nie gewesen. Es wird auch nicht besser dadurch, dass die meisten meiner Freunde eine Autostunde von mir entfernt wohnen, es lokal „auf’m Land“ ohnehin quasi kein Freizeitangebot gibt und meine Arbeitszeiten eher fordernd sind, aber all das sind nur weitere Aspekte. Spontanität fiel mir nie leicht.
Vielleicht einigen, die hier lesen, schon. Vielleicht blicken einige von euch auf diesen Artikel und fragen sich, was mein Problem ist – und wenn ich es schon so formuliere: Ich war nie in der Lage, in den Tag zu leben. Jedenfalls nicht – und Achtung, das ist ein wichtiger Aspekt – jedenfalls nicht, wenn ich gleichzeitig das Gefühl haben wollte, mit meinem Tag etwas Sinnhaftes getan zu haben.
Wenn ihr in den Tag lebt, euch abends (wertfrei gemeint) wahllos berieseln lassen könnt und dennoch zufrieden seid? Cool. Aber wenn es euch wie mir geht, wenn auch ihr so viel habt, was ihr in euren statistisch gesehen rund 4.000 Wochen auf diesem Erdball erreichen wollt, und wenn ihr zugleich dennoch merkt, dass euch der Alltag immer wieder Kraft oder Mut abzieht, dem zu folgen, dann kann dieser einfache Ansatz womöglich helfen.
Gibt es ein Hobby, dem ihr nachgehen wollt, aber zu dem ihr nie kommt? Sucht euch einen festen Termin, und übt es dann aus, komme was wolle. Auch das ist eine Reduktion von Optionen: Ihr könntet alles mögliche zu dieser Zeit tut. Aber sagen wir es ist Donnerstag, und Donnerstag ist euer Filmabend.
Reduktion der möglichen Optionen, und Fokus auf die konkrete Fragestellung ohne den Ballast von Einst und die Unwägbarkeit von Morgen.

Die großen Entscheidungen

Freilich hat das Grenzen. Diese Fragen von weiter oben – Will ich diesen Job? Bin ich bereit, dorthin zu ziehen? Willst du mich heiraten? – sind noch immer welche, die man schon bewusst und bedacht treffen sollte. Ebensowenig wie für Egoismus will ich hier für völligen Aktionismus werben.
Es ist eine Sache, über seinen Speiseplan oder seinen Stapel ungelesener Bücher nachzudenken, und etwas anderes sich den wirklich komplexen, großen Fragen des Lebens zu stellen. Wobei … ist es das?
Der Kern, von dem ich eingangs sprach, gilt auch hier. Will ich den Job? Nicht im Angesicht der Frage, ob vielleicht was Besseres daherkommen könnte, sondern ganz konkret zu dieser Option: Möchte ich das machen?
Möchte ich dort wohnen? Möchte ich mit dieser Person den Rest meines Lebens verbringen?
Der Modus ist gleich: eine Reduktion der Optionen.
Einige eurer Entscheidungen werden auch falsch sein. Werden sie. Vielleicht ist der Job im Nachhinein schrecklich, der Wohnort nicht, was ihr euch erhofft habt und vielleicht ist die Ehe am Ende nichts, was Bestand haben kann, egal wie sehr ihr euch müht. So etwas passiert. Und dann?
Gleiches Spiel: Schaut nicht zurück, fragt euch nicht, was ein anderer Weg euch hätte bringen können. Natürlich, fragt euch, was zu dem Scheitern geführt hat, wenn ihr glaubt, daraus für die Zukunft lernen zu können. Aber grämt euch nicht, dass ihr diesen Weg gegangen seid.
Ihr hättet es vorher nicht wissen können.
Ihr seid nur ihr, weil ihr diesen Weg gegangen seid.
Zeit für den nächsten Schritt.

Grenzen der Grenzen

Eine letzte Einschränkung zu allem Gesagten ist mir noch wichtig: Es geht mir nicht um Effizienz. Es geht mir nicht um die Frage, wie ihr noch mehr aus eurem Tag, eurer Woche, eurem Leben herausholen könnt.
Es geht mir darum, Last und Stress zu entfernen. Vor allem aber: unnötige Last, unnötigen Stress.
Es geht mir nicht um eine Form von Selbstdisziplin im Sinne eines Freud oder Kant, die ja beide geradezu drakonisch darauf gedrillt waren, an jedem Tag zur gleichen Uhrzeit einen Spaziergang anzutreten. Im Grunde geht es mir nahezu um das Gegenteil von Disziplin: Je leichter man es sich macht, indem man die zur Verfügung stehenden Optionen reduziert, desto weniger Disziplin bedarf es, all dieser Optionen Herr zu werden.

Immer wieder werde ich privat, werden wir aber auch öffentlich im Rahmen des DORPCasts gefragt, wie wir all das schaffen, was wir so tun. Eine Frage, die im Rahmen meiner anhaltenden Kämpfe mit Long COVID nur umso brisanter erscheint. Es gibt keine einzelne Antwort auf diese Frage – aber die Nummer mit reduzierten Optionen hat sicherlich auch Anteil daran. Ich lebe mein Leben allerdings nicht so, damit ich beispielsweise mehr Hobby-Projekte machen kann. Das ist ein netter Nebeneffekt, aber kein Zweck.
Warum habe ich heute diesen Blogartikel geschrieben? Weil er laut meiner Liste an der Reihe war. Doch warum habe ich überhaupt geschrieben? Weil ich Lust zu schreiben hatte. Dank der Vorauswahl habe ich nicht lange aufs virtuelle weiße Blatt gestarrt, ich hatte mein Thema – eines, über das ich eh quasi dauernd nachdenke – und konnte loslegen. Ich habe mich nicht gezwungen, zu schreiben. Aber ich habe so gut es möglich war alle Hürden aus dem Weg geräumt.

Im Urlaub, beispielsweise, werfe ich all das soweit möglich auch komplett über Bord. Dann wird gegessen, worauf ich gerade Lust habe und wenn nicht irgendeine Verpflichtung an einem Tag besteht, wird im Zweifel auch völlig spontan entschieden, was ansteht.
Wie ich sagte: Entscheidungen haben einen Preis. Im Urlaub habe ich gewissermaßen genug in der Portokasse, um es mir zu leisten.

Und nun?

Ich kann und will hier auch keine pauschalen Empfehlungen geben, wo ein:e jede:r individuell ansetzen könnte. Dass muss man sich selbst fragen.
Aber in der Regel ist es eine Frage, die sich in der Selbstschau auch leicht beantworten lässt – was sind die Punkte eines Tages, an denen man immer wieder stockt? Ist es die Frage, was es zu Essen geben soll? Was abends noch geguckt wird? Sind es bestimmte Arten von Entscheidungen auf der Arbeit?
Und gibt es große Fragen, die ihr für euch bisher einfach nicht beantworten könnt, weil es völlig unabsehbar scheint, wohin es euch führt, egal wie eure Entscheidung ausfällt?
Sowie man das lokalisiert hat, muss die Folgefrage immer sein: Wie kann man – in der Breite oder in der Tiefe – die Optionen reduzieren? Wie kann man die Antwort erfassbar machen?

Mehr noch als im Kontext dieser individuellen Entscheidungen ist es aber etwas, woran man im Rahmen seines allgemeinen Denkens arbeiten muss. Was geschehen ist, ist geschehen. Eine bestmögliche Lösung gibt es nahezu nie. Alles, worüber man wirklich Kontrolle hat, sind die nächsten eigenen Entscheidungen, die man trifft.
Trefft sie. Und dann schaut weder, wohin es euch nicht führt, noch wohin etwas anderes euch hätte führen können. Schaut, wohin der Weg euch leitet. Und dort trefft ihr eine nächste Entscheidung. Und dann die nächste. Und dann die nächste.
Ist eigentlich einfach.

Herrgottnocheins, hat der Film wohl wirklich keinen völligen Unfug erzählt …

Viele Grüße,
Thomas