Hallo zusammen!
Wir leben ja in einer vernetzten Zeit, in der zumindest auf den ersten Blick alle menschgemachten Medien jederzeit abrufbereit scheinen – aber ich glaube, es ist wert, da einmal einen genaueren Blick drauf zu werfen. Denn die Wirklichkeit sieht anders aus.
Ich habe dieses Thema vor (oh Gott!) 11 Jahren hier an dieser Stelle schon mal gestreift, als ich umfangreich über Die Tote von Amelung schrieb. Die Tote war ein Krimi-Dreiteiler, den RTL 1995 ausgestrahlt und der mich damals immens fasziniert hat, der aber danach (nahezu) vom Erdboden verschluckt wurde und dem ich, trotz vieler Versuche, nie habhaft werden konnte. Er ist dann vor mehr als einem Jahrzehnt einmal als DVD erschienen, aber danach auch wieder in die gleiche Unverfügbarkeit zurückgesunken; mit dem Unterschied, dass nun zumindest physische Medien in der Welt existieren und nicht nur vage Erinnerungen jener, die eine einzige, lineare TV-Ausstrahlung vor fast 30 Jahren gesehen haben.
Aber auch diese physischen Medien werden mit der Zeit zerfallen – im Falle von DVDs ja schon nach wenigen Jahrzehnten.
Die aktuelle Depublikationswelle
Das Thema ist mir aber auch aus anderem Winkel wieder sehr viel bewusster geworden, da in den letzten Monaten ja geradezu ein Trend bei den großen Streaming-Plattformen ausgebrochen ist, Dinge wahlweise zu depublizieren (also komplett aus der Verfügbarkeit zu nehmen) oder gar nicht erst zu veröffentlichen. Das hat diverse vorgeschobene Gründe … aber sind wir ehrlich, Spoiler, hier geht’s um Geld; Kapitalismus die Schuld zu geben ist zwar abgedroschen, aber hier auch einfach wahr.
Da ist Warners Entscheidung, den Batgirl-Film faktisch zu annullieren und ihre kontinuierliche Reduktion des HBO-Katalogs. Da ist Disney, die mehr als 30 Filme und Serien von Disney+ geworfen haben, und relativ frisch haben Paramount zumindest in kleinerem Maßstab das gleiche Spiel begonnen.
Wie gesagt, da geht es um Geld. Die meisten Artikel sind sich einig, dass es um Steuerabschreibungen geht – ganz vereinfacht: dadurch, dass diese Inhalte nie mehr auf die Plattform gelangen werden, verliert die Plattform Wert, und diese Wert-Differenz kann steuerlich ausgenutzt werden.
Auch liest man manchmal, dass es um Tantiemen sowie Lizenzgebühren geht, aber da scheint man sich uneins. Der Kern aber bleibt: Es geht um Geld.
Dass es dabei jedoch auch um Kunst geht, und in diesem Fall das völlig mutwillige, rein profitorientierte Depublizieren von Werken kunstschaffender Menschen, ist zwar wahr, spielt aber offenbar keine Rolle für die Entscheidung.
Selbst wenn die Batgirl-Macher noch last minute versuchen, eine Raubkopie zu ziehen oder einige Macher der Willow-Serie entsprechend toben.
Verloren im Strom der Zeiten
Aber auch wenn diese Gewinnmaximierung die aktuelle Nachricht ist, der Verlust von Kulturgütern ist ein kontinuierlicher und beileibe nicht neu.
Nehmen wir Stalker. 1979 wurde in der Sowjetunion der Film „Сталкер“, Stalker, gedreht. Andrei Tarkowski führte Regie bei der Verfilmung eines Romans von Arkadi und Boris Strugazki – und zu Recht gilt das Werk als ein extrem bedeutsamer Beitrag im Bereich der Science-Fiction-Filme. Stalker ist auch nicht verloren; im Gegenteil, ihr könnt ihn jetzt in diesem Moment legal und kostenlos auf YouTube schauen.
Es gibt auch eine deutsche Synchronfassung der DEFA, die es sogar auf DVD geschafft hat. Aber: An einigen, wenigen Stellen wie der Synchrondatei finden sich auch Hinweise auf eine zweite Synchronfassung – eine, die in der BRD erstellt wurde. Die Wikipedia führt das auf den WDR zurück, die Synchrondatei auf die Studio Hamburg Synchron GmbH – aber diese Fassung ist wohl zuletzt (sagen diese Quellen) 1995 via ARD ausgestrahlt worden und ward seither nicht mehr gesehen bzw. gehört.
Ähnlich wie bei der Toten von Amelung habe ich da mal versucht, meine Fühler auszustrecken, aber soweit ich das von außen sagen kann, ist man sogar beim WDR selbst verwirrt von dieser angeblichen Synchronfassung.
Andererseits ist der Eintrag in der Synchrondatei, mit den konkret benannten Sprechern, eigentlich zu präzise, um einfach Unfug zu sein … schwierig also.
Übrigens, in diesem Sinne: Wenn ihr Infos oder gar eine alte VHS-Aufnahme der BRD-Fassung habt, meldet euch doch bitte mal bei mir. Ich wäre da sehr interessiert!
Doch so, wie wir hier zwar noch Spuren in Datenbanken haben, aber das Medium scheinbar nicht mehr, so gibt es auch den umgekehrten Fall. Ein Lied, das manchmal als Like the Wind und manchmal als The Mysterious Song geführt wird, ist ein faszinierendes Beispiel …
Vermutlich 1984 nahm eine Person im Radio – die Vermutung deutet auf den NDR und die Sendung Musik für junge Leute hin – das obige Lied auf. Und niemand, niemand weiß, was das für ein Lied ist.
Es gibt einen umfangreichen Reddit-Eintrag dazu, dutzende YouTube-Videos, der damalige NDR-Moderator Paul Baskerville hat das Lied seither zweimal in seinen heutigen Sendungen gespielt – aber niemand weiß, was es für ein Song ist, oder von wem.
Wir haben das Medium. Aber niemand kann es identifizieren.
Und je weiter zurück man blickt …
Und natürlich geht dieser Kaninchenbau geradezu beliebig tief hinab. London After Midnight, der womöglich erste Vampirfilm der Welt von 1927, gilt als vollständig zerstört, nachdem alle bekannten Kopien bei einem Brand im MGM-Archiv 1967 vernichtet wurden. Und damit ist er nur ein prominentes Beispiel, die Library of Congress nimmt an, dass wir 70% aller Stummfilme verloren haben.
Wir können eine lange verschollene (und teils angezweifelte) Farbfolge von Ein Herz und eine Seele erwähnen, die immerhin gefunden wurde, oder die frühen Doctor-Who-Folgen, von denen immer noch weitere wiederentdeckt werden.
Dass Der Wille zur Macht letztlich gar kein Hauptwerk Friedrich Nietzsches, sondern eine Kompilation seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche ist, ist auch bis heute nicht überall vernommen, ebenso dass wir bei mehreren Texten Kafkas im Grunde nicht mal wirklich wissen, in welche Reihenfolge die Kapitel gehören. Und bei beiden, Nietzsche wie Kafka, sind wir immer noch im 20. Jahrhundert.
Aber erst wenn man sich vor Augen hält, dass Aristoteles’ zweiter Teil der Poetik, in dem er Komödien behandeln wollte oder behandelt hat, uns ins Jahr 335 v. Chr. zurückführt, und wenn man bedenkt, dass wir nicht mal sicher wissen, ob er ihn nur nie geschrieben hat oder ob er verschollen ist, wird klar, wie weit das zurückreicht. Dass mit dem Tractatus Coislinianus eine Art Antwort-Versuch auf die Frage der Komödie im Geiste Aristoteles unternommen wurde, der seinerseits bereits mehr als 1.000 Jahre alt ist, macht klar, wie endlos tief der Schlund ist, in den wir hier blicken.
Fragiles Erbe
Mein persönlicher, erster Kontakt mit so etwas wie verlorenen Medien führt uns auf die Schulhöfe der 90er Jahre zurück. Mein Mitschüler Torben berichtete uns damals von einer anderen Fassung des Films Aliens, die er gesehen habe. Eine waghalsige Räuberpistole mit Szenen, von denen er erzählte, die ja nun ganz offensichtlich nicht Teil des Films waren. Ich weiß nicht, wie Schulhöfe heute so funktionieren, aber solche Gerüchte machten damals zuhauf die Runde, und es wäre vielleicht gar nicht erwähnenswert, wenn ich nicht deutlich später den Director’s Cut des Films gesehen hätte. Denn der enthielt alles, wovon Torben erzählt hatte.
Dass wir Texte wie die Poetik Jahrtausende nach ihrer Erstellung noch vorliegen haben und man sie bereitwillig einfach so im Buchhandel kaufen oder kostenlos im Internet lesen kann, ist Wahnsinn. Aber so viele der obigen Beispiele sind nicht Jahrtausende alt. Die depublizierten Streaming-Inhalte, Die Tote von Amelung, der Mysterious Song und die vermeintliche BRD-Synchro von Stalker sind Sachen, die sich zu meinen eigenen Lebzeiten ereignet haben.
Und wohlgemerkt: Wir leben gerade in der zweifelsohne best-dokumentierten Epoche der Menschheitsgesichte, und dennoch können wir schon jetzt beobachten, wie Spuren abreißen und letztlich Kulturgüter verlorengehen. Teilweise auch, weil wir so viel haben und sich Werke in Archiven verstecken oder an falschen Orten einbuchen lassen.
Und dabei habe ich noch gar nicht von verschwindenden Webseiten angefangen. Oder gar von Videospielen, bei denen neben der Archivierung der Daten eigentlich auch noch die stetig zerfallende Hardware Teil der Kulturerfahrung ist.
Menschliches Kulturgut ist immens flüchtig. Das ist im Endeffekt der Punkt, auf den ich hinauswollte.
Menschliches Kulturgut ist immens flüchtig, und ich bin sicher, ein jeder, der das hier liest, wird in seinem Leben schon Medien konsumiert haben, die heute nicht mehr zugänglich sind.
Und ich glaube, das ist etwas, über das nachzudenken lohnt.
Viele Grüße,
Thomas






Wen hingegen meine berufliche Arbeit als Verlagsleiter und leitender Layouter für Ulisses Spiele interessiert, findet
Zu dem Song gibt es eine Decoding the Unknown Folge, glaube ich…oder es gibt 2 mysteriös verschollene Songs. ;-)
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