Ein Beitrag für die Gedichte nicht lesen

Hallo zusammen!

Es mutet ein wenig ungewohnt an, aber tatsächlich hat man ja in den vergangenen Tagen in Deutschland und vor allem in der Öffentlichkeit noch einmal über Gedichte gesprochen. Nun, genau genommen über ein Gedicht, und dazu noch eines, das gerade im Blickpunkt der Poesie nicht ganz unproblematisch ist. Auch inhaltlich, aber das ist ja noch weniger mein Thema hier.
Dennoch, genauso wie ich heute Vormittag vermutlich das letzte Mal vor der großen Klausur bei meiner Nachhilfeschülerin war und nicht zuletzt viel Energie darein investiert habe, entgegen der tristen, traurigen Lehrpläne NRWs etwas die Lust an der Lyrik zu entfachen, so wollte ich das Thema auch hier einmal aufgreifen.

Viele Leute, die ich kenne, können mit Gedichten nichts anfangen. Manche davon sind sogar geradezu vehement darin, zu betonen, wie doof Lyrik sei. Und auf einer gewissen Ebene kann ich das sogar nachvollziehen. Aber nur auf einer gewissen Ebene.

Ich persönlich finde schon länger, dass von den drei großen Gattungen – Epik, Dramatik und eben Lyrik – die letztgenannte Form irgendwie der speziellste Fall ist. Da die primäre Textform heute wohl eh der Roman sein dürfte, wird Epik häufig ohnehin als der Status Quo angesehen, aber auch die typische Form eines Dramas ist heute recht gegenwärtig, und sei es vielleicht auch nur in Gestalt ihres modernen Geschwisterleins, dem Drehbuch.
Aber Lyrik?
Lyrik ist speziell.

Lyrik ist was für Vergeistigte. Lyrik ist pathetisch. Lyrik reimt sich und klingt daher albern. Und Lyrik ist eine Methode, etwas irre kompliziert zu sagen, was auch mit wenigen, einfachen Worten hätte möglich sein sollen.
Und all das, was in diesem Absatz gerade stand, ist meiner Meinung nach nicht wahr.

Ich habe auch sehr lange Zeit gebraucht, um einen Zugang zu finden. Sicher, als Supplementärmaterial schien das immer eine gute Idee zu sein, etwa bei den Liedern im „Herrn der Ringe“, die ja de facto auch nichts anderes als Gedichte sind. Oder – auch wenn ich es damals nicht kannte, aber weil es so schön ins Schema passt – bei dem Schattenkönig-Gedicht in Moers „Stadt der Träumenden Bücher“. Aber mehr? So privat Gedichte lesen?
Das schien mir eher außer Frage zu sein.

Und dann kam die Uni. Achtung, Anekdote folgt:
Mein allererster Tag an der Uni war relativ einschüchternd. Ich war nicht nur, wie so viele, gerade nach Aachen gezogen, nein, ich zog gerade aktiv nach Aachen. In dem Sinne dass ich meine Verwandten in halb aufgebauten Möbeln zurückließ, für 90 Minuten in die Uni ging und dann weiter aufbaute. Dazu dann allgemein der Eifler Junge in der großen (ha!) Stadt, und eine weitere Unsicherheit: War das mit der Neueren Deutschen Literaturgeschichte eine gute Idee? War das etwas, was ich wirklich machen wollte, oder war das eine fixe Idee, die mir einer der definitiv besten Lehrer, die ich jemals hatte, in der Mittelstufe implantiert hatte?
Also saßen wir da in diesem Raum, irgendwann kam unser Dozent rein – ein Mann, der weitaus jünger und dynamischer war, als das Klischee hatte vermuten lassen – und dann machte er etwas, was ohne Übertreibung mein Leben verändern sollte.
Er legte ohne viele Umschweife ein Gedicht auf den Projektor und bat uns, mal unsere Meinung dazu zu sagen.

All das, was in der Schule immer so fragwürdig war, etwa die Frage, warum die Interpretation des Lehrers irgendwie immer richtiger war als die eigene, egal wie gut man argumentierte und gerade, was die Note anging, wurde einfach weggefegt. Die Herangehensweise war assoziativ, teilweise fundiert und teilweise durchaus in Retrospektive auch Humbug, aber es war absolut erleuchtend.
Wir werden derart in der Schule darauf gedrillt, ja geradezu konditioniert, fixiert auf eine Autorenintention schon geradezu krampf- und krankhaft Vers für Vers durch einen Text zu robben und sprachliche Mittel, Versfuß und Versmaß so lange auf links zu drehen, bis wir uns einbilden, anhand dessen die peinlichste aller Fragen beantworten zu können: „Was will der Verfasser uns damit sagen?“
Aber darum geht es nicht. Das schöne, das wundervolle an Lyrik ist, dass sie weniger einen Gedanken äußert als vielmehr ihn umreißt. Sie weckt Bilder, sie weckt Gedanken, aber gerade aufgrund ihrer lyrischen Verkürzung und der bewussten Sprache sind diese Eindrücke lückenhaft. Diese Lücken sind kein Nachteil, diese Lücken sind ein Geschenk, weil man sich als Leser in genau diese Nischen begeben kann um seine eigene Perspektive zu entdecken.

Das Gedicht, was unser Dozent damals auflegte, heißt „lock lied“ und ist Teil des Frühwerks von Hans Magnus Enzensberger, auf dessen „Gedicht für die Gedichte nicht lesen“ auch mein Beitragstitel hier anspielt.
Wohl weiß ich, dass sich die meisten Leute ohnehin nicht bekehren lassen werden. Aber vielleicht hat ja der eine oder andere dennoch irgendwie Bock, sich den Text zumindest mal anzuschauen und, nun, wer weiß, mit offenem Geist vielleicht genau dieselbe Erfahrung zu machen wie ich damals.

Lyrik ist eigenwillig, das ist letztlich wahr. Sieht man von Bildgedichten ab hat man es mit einer Gattung zu tun, deren Schönheit letztlich erst ganz zu finden ist, wenn man den Text laut liest und die dennoch vor allem als Text erblühen kann, weil gerade im Lesen stets schon so viel Deutung und Bedeutung mitschwingt.
Aber wenn man einmal diesen Zugang gefunden hat, dann kann man gerade in Lyrik auch so viel finden, auf ganz andere Weise, als es klassische, erzählende Texte etwa können.
Ich möchte mich zugleich auch nicht ganz geschlagen geben. Ich habe die anderen versprochenen Beiträge nicht vergessen, aber wo sich das Thema doch gerade so anbot werde ich vorher noch zwei kleine Beiträge zum lyrischen Wort beisteuern, denke ich. Denn irgendwie missfällt es mir, dass derzeit so oft das Wort „Gedicht“ in den Nachrichten fällt und man zugleich den Eindruck hat, die, die es aussprechen, wissen auch gar nicht so recht, was sie da eigentlich haben.

Viele Grüße,
Thomas

3 Kommentare zu “Ein Beitrag für die Gedichte nicht lesen

  1. Du kennst es ja, aber vielleicht irgendwer noch nicht, der zufällig in die Komentare schaut :)

    Ich gehör zu denen die gerne Gedichte hören, ob ich sie gerne lese das weiß ich noch nicht so genau ;)

    • Danke für den Hinweis – den Kommentar hatte ich ja total übersehen :)
      Und ja, das Video ist toll! Ich hatte das auch vor einer Weile schon mal selber verlinkt, als ich ihre Videos allgemein vorgestellt habe. Aber das kann man auch gar nicht oft genug empfehlen.

      Zum Thema gelesene Gedichte, da wirst du vermutlich auch Spaß an meinem Blogeintrag morgen Vormittag haben :)

      Viele Grüße,
      Thomas

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