Hallo zusammen!
Ich habe derzeit eine Nachhilfeschülerin. Ist an sich nicht mein Deal, aber da mich eine gute Freundin bat und wir schnell feststellten, dass ich in diesem Falle tatsächlich helfen kann – warum auch nicht. Allerdings hat mich das auch dazu gebracht, mich einmal in die Lektüre-Vorgaben zum Zentralabitur im Fach Deutsch einzulesen – und dann erst einmal von kaltem Grauen erfasst wieder durchatmen zu müssen.
Wie zum Geier kommt man denn bitte auf diese Auswahl?
Aber fangen wir vorne an.
Früher war alles besser und heute ist alles anders
Der Unterschied könnte ja expliziter nicht sein. Als ich mein Abi gemacht habe, gab es zwar grundlegende Vorgaben, aber da die Klausuren letztlich von den Lehrern gestellt wurden, hatten diese auch durchgehend Einfluss darauf, was im Unterricht gelesen wurde.
Und beginnend mit der Mittelstufe war es nicht zuletzt das, was ein ohnehin aufkeimendes Interesse an Texte in mir packte und so lange auflud, bis ich am Ende meiner Schulzeit wusste: Ich studiere Literaturwissenschaft. Ist vielleicht ein Taxischein mit akademischem Œvre, wenn man den Klischees glauben will, aber das wollte ich machen.
Wir haben Sachen gelesen, die ich nicht hätte haben müssen, Elfriede Jelinek etwa, aber selbst da muss man anerkennen, dass wir gewissermaßen am Puls der Zeit waren, was man im Literaturbetrieb da auch eher selten hat. Doch der Rest? Gedichte von Benn, Kurzgeschichten von Borchert, von Goethe nicht weniger als den „Faust“; mir ist viel Qualität widerfahren.
Heute nun ist das freilich nicht mehr möglich, denn heute muss der Schüler lösen können, was ihm „von oben“ an Klausur serviert wird. Der Lehrer bereitet nicht mehr seine, sondern eine Prüfung vor und entsprechend sklavisch gilt es, sich an die Vorgaben zu halten. Und wie immer bei einem derartigen System ist alles gut und eitel Sonnenschein, solange nur die Vorgaben gut sind. Und da, fürchte ich, sind wir wieder beim Thema.
Dramatik ohne Dramatik
Die Literaturwissenschaft wird gemeinhin in drei Themenfelder geteilt – Dramatik, Epik und Lyrik. Dramatik, das sind Theaterstücke und dergleichen, Epik sind erzählende Texte mit, nun ja, Erzähler und Lyrik sind alle Formen von Gedichten. Das kurz als Grundlage, denn das Ministerium folgt genauso dieser Einteilung (nun, ja, mehr oder weniger) wie ich es darum an dieser Stelle machen möchte.
Der erste Block behandelt den Epochenumbruch im ausklingenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert und macht dies anhand dreier Texte. Der „Woyzeck“ von Büchner ist ein nettes kleines Dingen, gut zu lesen, an unterhaltsam und interessant. Er ist etwas fummelig, weil aus einem posthum veröffentlichten Manuskript rekonstruiert, aber nun gut, das gilt ja durchaus für viele Texte. Zuvor aber noch steht Goethe, der große Goethe, mit „Iphigenie auf Tauris“. Hier geht das ja schon los. Die „Iphigenie“ ist sicherlich im Kontext des Epochenumbruchs ganz spannend, immerhin vollzieht sich grob quer durch die Entwicklung des Stückes Goethes Wandel vom Sturm und Drang hin zur Klassik, aber sonst? Die Handlung des Stückes ist so überschaubar wie uninteressant, der Text zwar für sicherlich ein Drittel der deutschen Sprichworte ausgeräubert worden, daher aber auch nicht schöner zu lesen und eben gerade die betont und mehr oder weniger im Selbstzweck verwandte klassische Form machen die „Iphigenie“ zu einem gehoben sperrigen Stück Text. Warum ausgerechnet „Iphigenie“? Warum nicht, gerade im LK, den „Faust I“? Hat bei uns auch geklappt.
Der letzte Beitrag in diesem Abteil ist Heinrich von Kleists „Prinz von Homburg“. Kleists was? Korrekt, der „Prinz“ ist selbst in den Literaturgeschichten bei mir im Schrank mehr oder weniger eine Randnotiz, von der Handlung her eher wirr und vor allem völlig bezugsfern für junge Leser. Wenn ich die Wahl hätte, ich würde Kleist ja eher mit seinen epischen Texten lesen, also meinetwegen „Michael Kohlhaas“ oder „Die Marquise von O…“ Und wenn schon Drama, warum nicht „Der zerbrochene Krug“, „Amphitryon“, die „Penthesilea“ oder auch „Das Käthchen von Heilbronn“? Der Mann hat echt viele gute Texte geschrieben die nebenbei, Skandal, auch noch Spaß machen. Warum ausgerechnet einen so esoterischen Vergessenen wie besagten Prinzen, der übrigens entgegen der offiziellen Übersicht „Prinz Friedrich von Homburg“ heißt?
Und nebenbei: Epochenumbruch ist das Thema, ja? Na, dann ist Kleist ja eh perfekt, konnte er doch bis heute keiner Epoche wirklich zugedacht werden. Was lernen die Schüler denn da? Kleist schrieb während der Zeit der Romanik, war aber nicht Teil davon?
Ja. Super.
Epik ohne Gnade
Aber keine Angst, es wird schlimmer. Bei der Epik kommt es nun darauf an, ob man im Grundkurs oder Leistungskurs sitzt, aber auch das nur in Maßen. Hier begründet sich auch meine Einschränkung der Aussage, dass die offiziellen Vorgaben dem Dramatik-Epik-Lyrik-Dreiklang folgen würden, denn de facto hat man die Epik in zwei Gebiete aufgeteilt. Einen weiteren Epochenumbruch – hier „19./20. Jahrhundert“ – sowie das schwammige Thema „Gegenwartsliteratur“.
Der Grundkurs liest etwas von Thomas Mann – „Mario und der Zauberer“ – sowie etwas von Arthur Schnitzler, nämlich die „Traumnovelle“. Der LK bleibt den Autoren treu, liest aber andere Texte. Von Schnitzler gibt es „Leutnant Gustl“; das ist ganz nett, ist auch literarisch spannend, weil es Pionierarbeit geleistet hat dahingehend, dass es der erste Text war, der mehr oder weniger vollständig im „inneren Monolog“ verfasst wurde und liest sich zudem flott runter. Aufgewogen wird das aber durch den Thomas Mann der Leistungskurse: „Die Buddenbrooks.“
Spätestens jetzt gibt es keine Entschuldigung mehr, dass der „Faust“ nicht gelesen wird. „Die Buddenbrooks“ ist ein endlos langes Buch, vollgestopft mit unzähligen Figuren, Manierismen, Details und historischen Verquickungen. Weder glaube ich daran, dass es möglich ist, dieses Buch im Unterricht der Tiefe des Werks angemessen zu behandeln, noch glaube ich, dass das in dieser Form irgendeinem Schüler Spaß machen wird. Und bevor jetzt wer widersprechen will: Natürlich ist das wichtig. Es geht hier darum, Leuten die Literatur, das Lesen nahe zu bringen. Es gibt kein oder kaum faktisches Wissen, keine binomischen Formeln, die bis zum Stichtag x beherrscht werden sollen. Nicht nur, dass man den Schülern mit einer solchen Wuchtbrumme von einer Literaturschwarte schon beim Start die Lust nimmt, die Zielgerade zu erreichen; nein, man brandmarkt zugleich auch noch das Buch entsprechend, dass die, die durch diese Schule gegangen sind, auch ja nicht in Versuchung kommen, die Lektüre später vielleicht noch einmal nachzuholen. Was einem einmal in der Schule nicht behagt hat, dahin kehrt man auch später bestenfalls unter Zwang wieder.
Dann gibt es da noch die Randnotiz, dass man im Rahmen der „Neuen Sachlichkeit“ Texte von Kästner, Fallada, Fleißer oder Keun lesen solle. Oder?! Liebes Ministerium, wenn der Lehrer nicht weiß was kommt, aber etwas davon in der Prüfung kommen könnte, dann wird er das ja wohl mal alles machen müssen, oder?
Aber für den Fall, dass bisher noch einer Lust hatte, am Ball zu bleiben, hat das Ministerium ja noch einen Vertreter der Gegenwartliteratur bei Fuß … wobei die Bezeichnung bei einem Buch von 1951 auch schon unpassend erscheint. Ja, richtig, das aktuellste Buch, das unsere Schüler in der Oberstufe lesen werden, ist 61 Jahre alt!
Die Rede ist von „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen. Ja, das Buch ist historisch relevant und ja, Marcel Reich-Ranicki hat es in seinen Kanon aufgenommen – und erzähle mir keiner, das habe damit nichts zu tun; davor hat das Buch glaube ich noch nie eine entsprechende Lehr-Liste erreicht gehabt –, aber im Ernst, das ist doch eine Zumutung.
Genauso wie die anderen Bücher aus Koeppens „Trilogie des Scheiterns“ ist auch „Tauben im Gras“ ultimativ mit seiner Zeit verknüpft. Wer sich mit dem Nachkriegsdeutschland nicht im Detail auskennt, kommt nicht hinter die Verschlüsselung des Textes und kann das bestenfalls erläutert bekommen. Und dann ist das so, wie einen Witz erklärt zu bekommen.
Ätzend.
Lyrik ohne Vielfalt
Wen aber an Nachkriegsliteratur lesen, wenn nicht Koeppen? Die grundlegende Schwierigkeit diese Frage zu beantworten sollte uns als Mahnung an den Zustand des Kanons deutscher Gegenwartsliteratur reichen, aber mal davon ab, dass es den Schülern vermutlich tatsächlich erheblich (!) mehr bringen würde, anstelle des Koeppen Roche, Kuttner oder Hegemann zu lesen – ihr wisst schon, Gegenwartsliteratur – findet man doch gerade bei den Gedichten schöne Sachen. Enzensberger beispielsweise. Wurde wohl früher auch mal gemacht, heute aber regiert dort eisern das Themenfeld „Liebesgedichte“. Der Grundkurs macht Romantik und Gegenwart, der Leistungskurs fasst die Gegenwart breiter und nimmt den Barock hinzu; sowie Heine bei der Romantik. Ja, nun gut. Da kann ich aufgrund der vagen Definition tatsächlich wenig zu sagen, außer: Wie unglaublich schade, denn dadurch nimmt man den Schülern so viel, was sie machen könnten.
„Schöne Jugend“ von Benn etwa, das hat mich damals sehr geprägt. Oder Brecht, der wird ja offenbar eh komplett geschmäht. Oder halt Enzensberger, oder Jandls „schtzngrmm“. Gedichte können so viel bieten, Lyrik kann so viel sein – es auf Liebeslyrik zu reduzieren bedient Klischees, mehr aber auch nicht.
Zwei bittere Randnoten
Es gibt auch noch einen Sachteil zum Thema Sprachentwicklung. Dazu will ich mich weniger äußern, ich bin wie gesagt Literaturwissenschafter, nicht Philologe. Aber auch hier: Herder? Habt ihr nichts noch älteres gefunden? Johann Gottfried Herders „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ ist aus dem 18. Jahrhundert; im selben Absatz zu sagen, dass auch Sprachwandel und Anglizismen in der Gegenwartssprache besprochen werden sollen ist bestenfalls ein Witz.
Aber nun gut: Die Leute, die wollen, dass die Lehrer der nachfolgenden Generationen eben diesen Kindern und Jugendlichen die Schönheit der deutschen Sprache vermitteln, schreiben dabei durchaus auch Sätze wie:
„Die Verpflichtung zur Beachtung der gesamten Obligatorik [sic] des Faches laut Lehrplan einschließlich der verbindlichen didaktischen Orientierungen des Faches bleibt von diesen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen unberührt.”
Fazit
Was bleibt am Ende zu sagen?
Das, was auch zwei Freundinnen von mir, beide Lehrerinnen, unabhängig im Bezug zu dem Thema sofort sagten: Da versucht man bestenfalls, den Jugendlichen das Lesen direkt schon abzugewöhnen. Es ist nicht alles Mist, Büchner, Schnitzler, das ist schon alles in Ordnung. Aber ein Großteil der Textauswahl wirkt so, wie das, was es vermutlich auch ist – das traurige Endergebnis einer Diskussion von Fachleuten, Pädagogen und Politikern, geschöpft aus auf Kompromissen basierten Kompromissen, fernab gleichermaßen von echter Germanistik, Lehrrealität, Schüler- oder Lehrerinteresse; geeignet die formalen Pflichten einer Lehrverordnung zu erfüllen, aber mehr auch nicht.
Aber was schreibe ich hier eigentlich?
Ich denke, ich zitiere einfach Enzensberger. Wenn schon nicht die, dann ich.
Denn der hat es im Grunde schon auf den Punkt gebracht; und das ist in der Erstauflage auch schon wieder 55 Jahre alt:
Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne:
sie sind genauer. Roll die Seekarten auf,
eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht.– Hans Magnus Enzensberger: Ins Lesebuch für die Oberstufe (aus: Ders.: Verteidigung der Wölfe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. S. 88).
Viele Grüße,
Thomas