Seelenworte

Es ging nie um Kulturpessimismus

Hallo zusammen!

Im März – gefühlt ein halbes Leben her – schrieb ich unter dem Titel Von einer schier unerträglichen Wortwörtlichkeit eine Art Abrechnung mit einer ganz spezifischen Form von kultureller medialer Auseinandersetzung im Netz: Eine, die sich mit den Federn einer tiefgehenden Analyse schmückt, ohne dabei nur mal an der Oberfläche zu kratzen – und das zugleich mit einem so aufbauschenden Ton, der regelrechte Enthüllungen vermuten lässt. (Es ist was detaillierter als das – aber mei, der Link oben führt ja im Zweifel dorthin.)

Kulturpessismus?

Etwas, was mir aber im Nachgang aus mehreren Richtungen attestiert wurde, war dann allerdings spezifisch Kulturpessismismus, und das ist etwas, was ich selbst heute, ein Dreivierteljahr später, immer noch gerne realitiveren möchte.
Auch nicht zuletzt im Angesicht des dräuenden, neuen Jahres und der guten Vorsätze und Veränderungen, die vielen von euch daher gerade sicher durch den Kopf gehen. Dieser Artikel hier ist keine konkrete Auseinandersetzung, wie der im März es war.
Nennen wir wir es ein Plädoyer.

Denn Kulturpessismus ist nicht wirklich der Punkt.
Ja, diese Form von Internet-Essay ist in meinen Augen bestenfalls Unfug zu nennen.
Und ja, die von mir vor Jahren hier schon erwähnten, ähnlich debilen Tenet-Videos sind genauso Unfug.
Und ja, man muss schon zweifeln, was Schöpfer solcher Videos Zuschauern denn noch für eine Medienkompetenz zutrauen, wenn es zu einem Film wie Damsel oder Red One ein ‚Ending Explained‘-Video gibt.

Ja, es ist leicht, angesichts solcher Beispiele wenn schon nicht pessimistisch, dann doch zumindest zutiefst kritisch zu sein.
Aber nichts davon ist der Punkt.

Der Punkt

Es geht mir nicht darum, pessimistisch zu sein. Es geht nicht um die ebenso marode Form von Internetkritik Marke thing bad, wo wir dann am Ende einfach nur im Kreis stolz aufeinander sind, gemeinsam den Untergang der Kultur attestiert zu haben.
Nennt es nicht einfach Kulturpessimismus.
Nehmt es, erkennt es an, und dann betreibt Kulturaktivismus.

Teilt die wertvollen Videos. Honoriert die komplexen Auseinandersetzungen.
Schreibt durchdachte Blogposts oder Beiträge auf der Plattform eurer Wahl.
Führt anspruchsvolle Gespräche.
Traut euch, und geht davon aus, das andere auch mehr wollen werden als einen kleinsten gemeinsamen Nenner.

Haltet kurz inne, bevor ihr die nächste reißerische Clickbait-Headline anklickt.
Und merkt euch, wer so produziert und straft sie auf die einzig denkbare Weise – indem ihr sie in Zukunft ignoriert.

Aber macht da nicht Halt.
Belohnt kreative, neue Ideen. Sie mögen oft nicht perfekt sein, aber sie sind im Gegenzug auch nicht von einem Komitee am Reißbrett für maximal spannungslose Gefälligkeit erstellt.
Flucht nicht, dass der Streaming-Service eurer Wahl keine interessanten Inhalte bietet. Sucht euch einen, der es tut.
Zetert nicht – mit Recht – über die räuberischen Finanzierungsmodelle im AAA-Spielebereich, sondern sucht euch die Titel heraus, in denen wirklich Liebe steckt.

Folgt Medienschaffenden, die etwas sagen wollen mit dem was sie tun, egal ob wir hier von YouTube, Kino, Musik oder Buchmarkt reden.
Verschwendet eure kostbare Zeit doch nicht mit der aufmerksamkeitsheischenden Schlacke, mit der euch algorithmusgetriebene Dopamin-Suchtmaschinen druckbetanken wollen. Wagt den Sprung vom Kopf des Löwen.

Zu glauben, dass spätkapitalistische Verwertungsgesellschaften ihre Modelle aus Güte und moralischer Erkenntnis korrigieren werden, ist vergebens.

Aber wenn wir doch im Zeitalter des Internets alle Sender und Empfänger sind, lasst uns diese Verantwortung – und diesen Fehdehandschuh – aufnehmen.
Lasst uns anfangen, die krude, die unbequeme, sperrige Kultur wieder zu feiern. Nicht anstelle des Mainstreams.
Liebt Star Wars, feiert das MCU, lest dampfend-heiße spicy Romantasy so viel ihr wollt.
Seid nicht gegen das, was andere machen. Seid nicht gegen das, was andere mögen.
Aber nehmt die Medien, in denen spürbar Herzblut steckt, die mehr für euch sind als Zeitvertreib beim großen Warten auf den Tod, und bereitet denen eine Bühne.
Lebt eine radikale Gegenkultur, indem ihr ernsthafte, wahrhaftige Auseinandersetzung feiert.
Lebt eine radikale Gegenkultur, indem ihr Dinge ungeschminkt und unironisch mögt.

Und darüber hinaus

Und wenn wir schon dabei sind – geht noch einen Schritt weiter.
Seid wahrhaftig. Zelebriert euch und jene um euch als komplexe, emotionale, wunderbar-irrationale Wesen.

Erkennt Bullshit um euch. Lehnt ihn ab. Weist ihn von euch. Tretet ihm, wenn ihr die Kraft habt, offen entgegen.
Aber teilt ihn nicht.
Gebt nicht dem Mumpitz eine Bühne – denn am Ende ist Outrage auch nur eine Form von Clickbait.

Lasst uns im kommenden Jahr nicht darüber reden, was wir an Dingen doof finden – sondern lasst uns die Dinge feiern – gebührend feiern – die uns Freude bereiten. Abseits der allgegenwärtigen Internet-Ironisierung, der zynischen schnellen Klicks und der Sicherheit flacher Gewässer.

Und wenn wir auch Davids sind gegenüber dem Goliath des Algorithmus?
So what.

Viele Grüße,
Thomas