Ich habe Bücher gelesen: Q3/25
Hallo zusammen!
Ein neues Quartal hat sich heimlich herangeschlichen, ein altes in geendet und zum nunmehr vierten Mal heißt es daher hier im Blog: Ich habe Bücher gelesen!

Werner Herzog: Vom Gehen im Eis
Werner Herzog ist ein seltsamer Mensch. Von seinen Gedanken zur Dummheit von Hühnern über sein Bedauern, Französisch gesprochen zu haben (um sein Leben zu retten!) bis zu seinen nihilistischen Gedanken zu einem Pinguin – Werner Herzog ist ein seltsamer Mensch.
Und daher ist es gleichermaßen folgerichtig und dennoch absurd, dass er 1974 – als er erfährt, dass seine Freundin Lotte Eisner in Paris womöglich im Sterben liege – beschließt, zu Fuß zu ihr zu gehen. Von München aus.
Herzog führt bei seiner Wanderung, die vom 23. November bis zum 14. Dezember dauern soll, Tagebuch – und beschließt vier Jahre darauf, diese Tagebuchnotizen als Buch zu veröffentlichen.
Und es ist wirklich schwer, dieses Buch in Worte zu fassen. Auf der einen Seite trotzt er in dem eiskalten Wetter ehrlichen Widrigkeiten, einzig mit Jacke, Kompass und einer Reisetasche mit dem Allernötigsten bewaffnet. Auf der anderen Seite berichtet er in seinem Buch mit einer Selbstverständlichkeit einerseits von regelrechten Delikten, wenn er etwa zur Übernachtung immer wieder in Ferienhäuser einbricht, und andererseits auf eine schonungslose, ungeschminkte Weise von all den Arten, wie der Weg ihm körperlich und seelisch zusetzt.
Das Buch ist extrem dicht, teils nahezu zusammenhanglos und ich fand es unglaublich faszinierend.
Das ist spezielle Kost, aber ich bin sehr froh, es gelesen zu haben.
Kim Newman: Genevieve Undead
Wilder Themensprung – 1993 erscheinen drei Warhammer-Fantasy-Novellen1 aus der Feder Kim Newmans, wie auch seine anderen Warhammer-Bücher damals unter dem Pseudonym Jack Yeovil.
Der Titel verrät es bereits, der (blut-)rote Faden, der hier alles verbindet, ist die Figur seiner Vampirin Genevieve Dieudonné.
Bevor ihr hier aber nun direkt zum nächsten Buch springt: Newmans Warhammer-Bücher sind sehr anders als alle anderen Warhammer-Titel, die ich kenne. Seine Alte Welt atmet sehr, sehr viel stärker einen britisch-schwarzhumorig-ironischen Unterton, der seine Bücher rein vom Stil in meinen Augen teils näher an Pratchett rückt als sagen wir an die Romane zu Gotrek und Felix.
Die drei (extrem) lose verknüpften Novellen spiegeln diesen Tonfall schon in ihren Prämissen. Stage Blood ist das Phantom der Oper auf „Warhammer“, The Cold Stark House ist bis in jede Faser mit den dunklen Bauwerken des (und Meta-Referenzen zum) Gothic Horror durchzogen und Unicorn Ivory beschreibt den schlussendlich zwischenmenschlichen Zusammenbruch einer Jagdgemeinschaft, die ein Einhorn zur Strecke bringen will.
Wie ich das so schreibe, muss ich meinen ersten Absatz tatsächlich ergänzen: Neben Genevieve ist ein zweiter, roter Faden definitiv eine Auseinandersetzung mit der Dekadenz und Verkommenheit des Adels und der „Schönen und Reichen“; man könnte sagen, ziemlich zeitgemäß eigentlich.
Das Ende der Novellensammlung ist da nur folgerichtig, aber das will ich nicht vorwegnehmen.
Newmans Warhammer-Bücher sind einfach exzellente Fantasy-Romane. Aber fangt mit Castle Drachenfels an, dem ersten Teil seiner Reihe.
Andrzej Sapkowski: Kreuzweg der Raben
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir 2025 einen neuen Roman rund um die „Witcher“-Geschichten, also um den Hexer Geralt von Riva sehen würden. In der Allgemeinheit heute vermutlich mehr durch die exzellenten Computerspiele und die umstrittene Netflix-Serie bekannt, ist auch das ja ganz ursprünglich eine Buchreihe. Eine Buchreihe, zu der Erfinder Sapkowski sich nun nochmal zurückbegeben hat, um ein Prequel zu schreiben.
Ich hatte dann in Folge erst Recht nicht damit gerechnet, dass ein 2025er-Prequel zur Reihe für mich einen der besten Hexer-Romane überhaupt darstellen könnte, aber so kam es. Ein verzückendes Buch!
Meine initiale Sorge, dass ein Prequel unweigerlich die Jugend Geralts oder so thematisieren wolle, oder seine Ausbildung, wurde zum Glück direkt entkräftet. Vielmehr beschreibt Kreuzweg der Raben Geralts erste Geschicke, nachdem er selbst ausreitet, um dem Hexerhandwerk nachzugehen. Dass das Buch dabei gerade die ersten zwei Drittel mehr wie eine verzahnte Sammlung von Kurzgeschichten anmutet, hat mir dabei ausnehmend gut gefallen, da ich – da bin ich ehrlich – Geralts frühe Abenteuer immer schon ein bisschen lieber mochte als den eng verzahnten Roman-Fünfteiler, in den sie schließlich münden.
Was das Buch vor allem aber auch auszeichnet, ist einmal mehr Sapkowskis Erzählweise. Man merkt hier denke ich noch immer, dass der polnische Schriftsteller durch eine andere Sozialisierung gegangen ist als unsere ja oft primär britisch oder amerikanisch geprägte, moderne Fantasy. Das beginnt bei der gewählten, manchmal auffällig nicht neutralen, süffisanten Erzählstimme, aber schlägt sich auch im Setting in vielen Facetten nieder.
Dass das Buch für ein Kapitel sogar geradezu zum Briefroman wird, um den Blick auf Perspektiven zu werfen, die Geralt selbst nicht hat, ist nur eine der Techniken, die den **Kreuzweg der Raben** für mich lesenswert gemacht haben.
Ein toller Titel. Kann man glaube ich auch gut als für sich stehendes Werk lesen und Spaß haben; wer aber eh die ganze Reihe lesen will, fängt vielleicht dennoch besser vorne an.2
Und sonst waren da noch …
- Brach, Tara: Radical Acceptance ist der Versuch, den generischen Selbstfürsorge-Ratgeber aus einer buddhistischen Perspektive zu verfassen. Hat für mich das klassische Problem des Populär-Buddhismus – es beginnt mit kleinen Schritten, macht dann einen geradewegs esoterischen Sprung und versucht, dies durch unzählige Anekdoten irgendwie zu festigen.
- Brackett, Marc: Permission to Feel setzt eben jene Frustration fort. Pop-Wissenschaft und ich werden vielleicht einfach keine Freunde mehr, aber ja, Brackett identifiziert reale Umstände, aber stellt dem vor allem Erfolgs-Anekdoten gegenüber.
- Brooks, Sarah: Das Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland hätte wirklich toll werden können. Die Idee einer alternativen Vergangenheit, wo eine Art Orient Express sich von China aus durch eine russische Einöde quält, die mehr an Picknick am Wegesrand (also Stalker) der Strugazki-Brüder erinnert, ist großartig. Das Setting ist toll, Handlung und Figuren werden dem leider nur gar nicht gerecht.
- Hamilton, Henrietta: Mord in der Charing Cross Road ist ein netter, kleiner Kriminalroman. Ursprünglich aus den 50ern, ist er in seiner detaillierten Beschreibung des Settings heute schon geradezu ein historischer Roman, der gleichzeitig in jene Epoche entführt und einen spannenden Fall bietet. Außerdem ein Pluspunkt: Die Hauptfiguren sind Antiquare.
- Hendel, Hilary Jacobs: It’s Not Always Depression habe ich, entgegen des Titels, nicht aus einer psychotherapeutischen Perspektive gelesen, sondern weil es wie eine interessante Fortsetzung der Emotionstheorie klang, die ich im Studium einst gelernt habe. War … okay. Hat aber auch das Pop-Wissenschafts-Anekdoten-Problem.
- Jackson, Shirley: The Haunting of Hill House hatte ich vor Jahren mal gelesen, aber auch dies ist eines jener Bücher, die mir aus heutiger Perspektive so viel mehr gegeben haben. Klar, vordergründig ist es eines der besten Spukhaus-Bücher, die in meinen Augen je geschrieben wurden. Gleichzeitig ist es aber zwischen den Zeilen eine fesselnde Darstellung einer an ihren eigenen Traumata zerbrechenden Person. Und eine brillante unzuverlässige Erzählerin noch dazu.
- Kristoffersen, Karl Otto: West Marches Campaign Playstyle Guidebook ist maximal ’special interest‘ und ich habe lange mit mir gerungen, ob es überhaupt nach hier gehört.3 Aber tatsächlich ist die Form des kollaborativen Erzählens, die in diesem dünnen Pamphlet beschrieben wird, in meinen Augen auch literaturwissenschaftlich durchaus spannend.
- LeGuin, Ursula K.: Die linke Hand der Dunkelheit ist ein komplexes Buch, dem ich hier kaum gerecht werden kann. 1969 erstmals veröffentlicht, erzählt der Roman von einem Sternenreisenden, der einen Planeten besucht, dessen Bewohner „ambisexuell“ sind – grundsätzlich asexuell und androgyn, manifestieren sie einmal im Monat männliche oder weibliche Eigenschaften. Die zahllosen Nuancen des Menschseins, die LeGuin darauf basierend dann erkundet, sprengen diesen Artikel. Ein faszinierendes Buch!4
- Livingston, Gordon: Too Soon Old, Too Late Smart ist der nächste Vertreter der Kategorie „Ich hatte wenig Glück mit Sachbüchern dieses Quartal“. Seltsame Erfahrung: Die Kapitelüberschriften im Buch sind alle zum Nachdenken anregend, interessante Ratschläge und eine gute Grundlage zur Reflexion. Die Kapitelinhalte fand ich oft banal. Vielleicht einfach das Inhaltsverzeichnis lesen …
- Nylund, Eric: Halo: The Fall of Reach. Das Prequel zur Videospielreihe ist weird. Es ist kompetent geschrieben, das Worldbuilding ist spannend, aber zugleich ist es atemberaubend, wie völlig unbewusst sich das Buch scheint, dass der Master Chief als de facto Kindersoldat, seinen Eltern geraubt und zermürbend ausgebildet, eine tragische Figur ist. Ein Mann, der sich nur wohl fühlt, wenn er klare Befehle hat und für den Menschen nur Zivilisten, Kameraden oder Feinde sein können – und der unsicher wird, wenn sich da Unschärfe zeigt – ist vermutlich kein Held. Sieht das Buch anders.5
- van der Kolk, Bessel: The Body Keeps the Score war dann am Ende doch noch genau das Sachbuch, nachdem ich gesucht hatte. Die Verbindung von Hirn, Geist und Körper aus einer wissenschaftlichen, evidenzgetriebenen Perspektive und dennoch klar und zugänglich formuliert. Das Buch war eine Bereicherung für mich.
Was ein wilder, wilder Mix!
Aber auch wenn ich mit den Sachbüchern teilweise etwas Pech hatte, würde ich sagen, war da auch diesmal wieder viel Schönes dabei. Schauen wir mal, was das abschließende vierte Quartal noch so bringen wird – und mal schauen, wann der nächste Rundumschlag hier im Blog folgt. Vielleicht wie schon letztes Mal wieder bereits rund um Weihnachten, damit ich mir nicht mit meinen eigenen Jahresrückblicken in die Quere komme …
Viele Grüße,
Thomas
- Interessenskonflikt und so: Bei meinem Arbeitgeber erscheint das Warhammer Fantasy Rollenspiel, also die Rollenspielversion genau dieses Settings. Ich feiere die Yeovil- bzw. Newman-Bücher seit ihrer deutschen Erstausgabe im Heyne-Verlag vor rund 30 Jahren, aber natürlich kann man mir hier gerne Befangenheit unterstellen. ↩︎
- Ich werde hier jetzt nicht in aller Tiefe auf die Lesereihenfolge eingehen; das ist auch inzwischen eher labyrinthartig zu nennen. Meine Empfehlung wäre, nach Veröffentlichungsreihenfolge zu lesen, nicht nach innerweltlicher Chronologie. Also Der letzte Wunsch, Das Schwert der Vorsehung, Das Erbe der Elfen, Die Zeit der Verachtung, Feuertaufe, Der Schwalbenturm, Die Dame vom See, Etwas endet, etwas beginnt, Zeit des Sturms und schließlich Kreuzweg der Raben.
Kreuzweg der Raben steht aber auch gut auf eigenen Füßen. ↩︎ - Ich grenze ja gemeinhin Rollenspielbücher stark von dem ab, was ich hier bespreche, weil sie in meinen Augen eine Art Nutztext darstellen, der sich zwar der gleichen physischen Darreichungsform bedient, aber schlussendlich eine ganz andere Form von Medium darstellt. In diesem Fall aber habe ich das schlussendlich anders gesehen, weil es ja vielmehr um eine gemeinsame Erzählform geht, nicht um ein konkretes Regelwerk, Setting oder Abenteuer. Ist ein Grenzfall für diese Seite hier, aber ums mit Jennifer Lopez‘ unsterblichen Worten in The Cell zu halten: Meine Welt, meine Regeln. ↩︎
- Das Buch war zweifelsohne seiner Zeit voraus. Aber wenn das nächste Mal einer jedweden -ismus der 60er als unausweichliches Produkt seiner Zeit erklären will: LeGuin meditiert hier über Gendernormen, gerade mal acht Jahre, nachdem Ian Fleming in Feuerball Bond noch hat sinnieren lassen, dass nichts im Straßenverkehr so gefährlich sei wie vier Frauen in einem Wagen, weil sie sich beim Reden immer anschauen müssen. Mein Ernst. ↩︎
- Irgendwie sehr wohl ein Held ist Brian David Gilbert, der für Polygon vor fünf Jahren mal eine großartige Auseinandersetzung mit der gesamten Halo-Romanreihe hingelegt hat, die mich durch ihren überaus unterhaltsamen Abstieg in den Wahnsinn überhaupt zu diesem Buch getrieben hat. ↩︎






Wen hingegen meine berufliche Arbeit als Verlagsleiter und leitender Layouter für Ulisses Spiele interessiert, findet