Ein Imbissteller voll Gedanken zu verlorenen Medien

Hallo zusammen!

Letzte Woche waren der DORP’sche Ralf, der DORP’sche Tom und ich zusammen im Kino.1 Das machen wir derzeit einmal im Monat, auch ein wenig im Geiste der Filmabende von einst und ich kann’s nur empfehlen. Entgegen aller Unkenrufe haben wir bisher doch jeden Monat einen Film gefunden, auf den wir alle Bock hatten – und enttäuscht wurden wir auch noch nicht.
Teil dieses Rituals ist es auch, sich vorher noch was beim Imbiss zu gönnen – und wie wir so bei unseren Bergen Pommes saßen, kamen wir im Gespräch mal wieder auf das Thema verlorener Medien zurück. Darüber schrieb ich hier vor fast zwei Jahren schon mal, und es ist auch unter uns anhaltend Thema.
Wir alle sind Mediensammler in unterschiedlicher Intensität, Tom bei Filmen sicherlich der ausgeprägteste unter uns. Für Ralf und mich hingegen ist das Konservieren älterer Medien auf verschiedene Weise auch Teil unserer beruflichen Arbeit, insofern ist es auch klar, dass wir die Kurve immer mal wieder nehmen.

Dieser Teller Pommer ist bestimmt nicht nur hier, weil Artikel mit einem Bild zu Beginn besser klicken.
Ich schwöre, ich komme auf den kulinarischen Aufhänger gleich noch zurück!

Jüngere Erfolge beim Erhalt kultureller Werke

Direkt vorweg, es gibt tatsächlich auch mal gute Nachrichten. In meinem letzten Artikel schrieb ich noch vom sowjetischen Film „Сталкер“, Stalker, der eine BRD-Synchro gehabt zu haben schien, derer aber weder Ralf noch ich irgendwie hatten Habhaft werden können. Wir hatten genug Indizien um zu wissen, dass es sie wahrscheinlich gab, aber nicht mehr. In den zwei Jahren seit meinem Artikel aber haben die tapferen Streiter bei Filmjuwelen ihre Magie gewirkt und seit diesem Jahr gibt es eine phantastische Neuauflage mit beiden Synchros auf einer Scheibe.2

Ebenso ist der most mysterious song, über den ich das ich das letzte Mal schrieb, inzwischen aufgeklärt und als Subways of Your Mind der Kieler Band Fex identifiziert. Soll also keiner behaupten, es gäbe in dem ganzen Themenfeld nur Unheil und Verdammnis zu finden – es gibt sie eben doch, die engagierten Menschen, die für den Erhalt solcher Medien streiten3 und auch das Maß, indem gerade das Internet helfen kann, diese Mysterien zu lüften, kann gar nicht hinreichend gewürdigt werden. Gerade aus dieser Richtung sehe ich zugleich aber vermutlich auch Schwierigkeiten auf uns zukommen, für die wir, fürchte ich, gar nicht gewappnet sind.

Manyley/Lewis und die Tücken der Moderne

Unabhängig von dem ganzen Thema bin ich meinerseits auf etwas gestoßen, was nicht per se zu den verlorenen Medien zu zählen ist, aber dennoch ein Problem schön illustriert.
In den 1970ern – zum Realitätsabgleich, das war vor ca. 50 Jahren – brachten Seon Maley und Gogo Lewis eine Reihe von Anthologien heraus. Die Besonderheit: Der Fokus lag auf etwas, was wir heute in verschiedener Form Genre-Literatur nennen würden, und wichtiger noch, auf Autorinnen als Urheber. Gerade Gebiete wie Fantasy, Horror und SciFi sind ja bis heute starke Männerdomänen und waren es in den 70ern noch vielmehr.
Insofern sind Mistresses of Mystery, Grande Dames of Detection, Ladies of Fantasy, Ladies of the Gothics, Women of the Weird, Sisters of Sorcery, Ghostly Gentlewomen und Fun Phantoms bemerkenswerte Titel, die mehr als einen Blick wert wären. Nicht nur wegen ihrer markanten Cover von Edward Gorey.

Was die Titel aber entschieden nicht sind, ist: verfügbar.
Ja, man kann sie antiquarisch jagen, wenn man gewillt ist, was tiefer in die Tasche zu greifen und ich war drauf und dran, eines mal zu einem guten Preis zu fangen, bis der französischen Verkäuferin auffiel, dass sie nicht nach Deutschland versenden möchte. Aber das ist ja kein Maßstab.
Das Stalker-Beispiel zeigt, dass es vielleicht auch nicht mehr braucht als einen engagierten Verlag, der die Rechte einsammeln geht und eine Neuauflage anstößt. Oder aber halt nicht.

Ich stieß jedenfalls auf diese Bücher und schickte das dann auch dem DORP’schen Matthias, und wir schrieben und recherchierten uns ein wenig zu dem Thema zusammen. Und dabei nahmen wir einen unerwarteten Schlenker.
Für eine halbe Stunde oder so, schien es uns tatsächlich, als hätte es eine deutschsprachige Ausgabe gegeben. Ich war ein wenig verwundert, weil meine gedruckten Horror-Lexika etc. keine Verweise darauf enthielten. Aber wir hatten Verweise darauf online, wir hatten deutsche Titel … und vielleicht ahnt ihr es schon, und schlussendlich erkannten es auch wir: Es gab keine deutsche Ausgabe. Was es gab, waren Suchmaschinen und Webseiten, die voller Eifer den Internetnutzern im deutschsprachigen Raum automatisch übersetzte Texte feilboten, ohne das auf den ersten oder zweiten Blick kenntlich zu machen.

Und das, glaube ich, wird ein Problem werden, je weiter wir fortschreiten. Denn nicht nur läuft man als Nutzer selbst Gefahr, in diese Falle zu tappen – und alle, die jetzt über uns und unseren Mangel an Medienkompetenz lächeln, wartet nur mal ab. Entweder kommt der Tag noch, an dem ihr es auch mal nicht merkt, oder viel gruseliger noch: Der Tag war schon, und ihr habt es nie realisiert.
Mehr aber noch ist es auch ein Problem, weil ihr spätestens in der Sekundärliteratur zusätzlich darauf angewiesen seid, dass in dieser womöglich langen Kette aus Quell-Referenzen niemand auf irgendeinen AI-generierten Unfug reingefallen ist, der sich danach in ein schlimmes Spiel Flüsterpost verwandelt hat. Ist ja nicht so, als wenn wir nicht im Buchbereich gerade schon einen lauten Warnschuss gehabt hätten.

Wir wissen ja gar nicht, was wir nicht mehr wissen

Antiquar Tom Wayling hat vor einer Weile ein Kurzvideo zu den seltensten Büchern hochgeladen, mit dem Hinweis, dass die seltensten jene sind, die gar nicht (mehr) existieren:

Aber so cool beispielsweise der erwähnte Universal Short Title Catalogue ist, das Ungesagte wiegt für mich noch mehr. Denn ja, der Katalog listet all die Titel als verloren, auf die wir zwar noch Referenzen haben, aber die als Werk nicht mehr zu existieren scheinen.
Was der Katalog naturgemäß nicht listen kann, sind jene Titel, von denen wir gar nicht mehr wissen, dass sie einmal existiert haben.
Und das mag gravierender sein, als man meint. Die erwähnten Manley/Lewis-Anthologien sind ein halbes Jahrhundert halt und schon vom Zeitfeist vergessen, aber zumindest im Geist des Internets konserviert.4

Um aber kurz einen Schritt über verlorene Medien im engeren Sinne hinauszugehen und zugleich den versprochenen Bogen zurück zur Kulinarik der Einleitung zu schlagen, über Joe Scott5 bin ich auf etwas gestoßen, was mich schon einige Tage beschäftigt:
Ihr alle kennt diese Sets aus Salz- und Pfefferstreuern, die als unausgesprochene Norm gedeckte Tische in der ganzen, westlichen Welt säumen, womöglich noch von Ölen flankiert. Von zuhause, aus dem Restaurant, aus der Imbissbude. So ist die Norm. Aber das war sie nicht immer.
Wir wissen, dass bis ins späte 19. Jahrhundert hinein, drei Streuer zu solch einem Tischgedeck gehört haben. Wir wissen nicht, was in dem dritten Streuer war. Es gibt Theorien, aber es gibt nach aktuellen Stand nicht eine einzige, belastbare Quelle, die es eindeutig erklärt.

Unser kulturelles Erbe ist unfassbar fragil. Zu dem Fazit kam ich vor zwei Jahren, und seither ist der Gedanke nur intensiver geworden. Die Wahrscheinlichkeit, dass schon die Kinder unserer Kinder vieles, was uns bewegt, rührt, aufwühlt oder erfreut, nicht mal mehr kennen oder erkennen werden, ist immens hoch.
Ich habe keinen call to action, keine direkte Konsequenz daraus. Aber ich denke, das ist etwas, über das zu reflektieren sich auf jeden Fall lohnt. Egal ob jetzt bei einer Portion Pommes, oder anderweitig.
Es ist an jedem von uns, die Zukunft mitzugstalten.
Es ist aber auch an uns, die Vergangenheit dabei nicht zu verlieren.

Viele Grüße,
Thomas

  1. Final Destination Bloodlines. Kann man gut machen, wenn man die bisherigen Teile der Reihe oder generell splattrige Komödien mag. ↩︎
  2. Nachdem ich nun beide gesehen habe, würde ich allerdings klar zur DEFA-Synchro raten. Es ist großartig, dass beide Fassungen nun erneut konserviert wurden und es ist aus geisteswissenschaftlicher Perspektive toll, sie so nahtlos vergleichen zu können, aber die DEFA-Version ist klar die mit höherem Schauwert für mich ↩︎
  3. In dem Zusammenhang ist auch spannend zu hören, wie es beispielsweise dazu kam, dass der Film Dogma entgegen aller Befürchtungen der Rechtehölle entrissen werden konnte. ↩︎
  4. Ich hatte überlegt, hier noch einen Exkurs zum Erhalt des Internet Archives einzubauen, aber ich glaube das ist mal ein eigenes Thema an einem anderen Tag. ↩︎
  5. Das fragliche Video ist, als ich das hier schreibe, bisher nur auf Nebula verfügbar, Joe ist aber auch nicht die einzige Quelle dazu. ↩︎

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