Seelenworte

Im Lande jener, die den Tod nicht verbergen

Hallo zusammen!

Direkt vorweg: Es geht in diesem Artikel um Tod, Bestattungen und Friedhöfe. Ich weiß, das Thema liegt nicht allen – und darum ausnahmsweise eine klare Inhaltswarnung vorweg. Es wird allerdings, zumindest nach meinem Empfinden, weder pietätlos noch irgendwie grausam. Es geht halt nur ums Sterben.
Okay? Okay.

Wenn man mal einen Schritt zurück macht aus der eigenen kulturellen Perspektive, so muss man anerkennen, dass die Verstorbenen in unserer Gesellschaft etwas sind, womit wir uns auf unseren Friedhöfen nur indirekt auseinandersetzen. Selbst jenseits der inhärent anonymeren Urnenfächer und Gemeinschaftsgrabstätten, selbst beim ganz traditionellen Friedhofsgrab, werden die Verblichenen zu etwas Abstraktem. Denn ja, irgendwo dort im Erdreich liegen die sterblichen Überreste in ihrer letzten Ruhe, aber das ist ja nicht, was wir sehen. Schmuckvolle Grabsteine, Blumengebinde und dekorative Objekte, ein Ewiges Licht und ein wenig Bepflanzung sind, worauf unser Auge fällt. Die Namen der Verstorbenen, ihre faktischen Lebensdaten, ganz vielleicht ein Bild, ganz vielleicht ein Sinnspruch, zieren jene Grabsteine. Aber die Menschen, die sie einst waren, liegen eben doch zunehmend ins Vergessene gleitend unter Schichten von Erdreich verborgen.

Um aber überhaupt diesen Schritt zu machen, um vielleicht überhaupt auf diese Gedanken zu kommen, so muss man vermutlich selbst einmal für einen Moment der Gravitation des eigenen Kulturraumes entfliehen – und das führt mich heute noch einmal nach Portugal.
Gut zwei Monate ist es jetzt her, dass wir dort waren und neben dem Tanzworkshop und abseits der Fotoshootings, in Teilen sogar jenseits all der allgemeinen Urlaubsgedanken, die ich mitgebracht habe, führte der Weg uns auch auf den Friedhof von Ferragudo.

No cemitério de Ferragudo

Denn wir hatten dieses Mal auch zwei Tage zu unserer eigenen, freien Verfügung. Und während andere etwa loszogen, die letzte Bratwurst vor Amerika zu mampfen, gingen Lichte und ich – ich vermute, weil wir schon immer anders waren als die anderen Kinder – gemeinsam auf den Friedhof.

Ich meine: Friedhöfe! Ich habe Friedhöfe immer schon gemocht. Natürlich ist es einerseits die Stimmung und die Ruhe, die von ihnen ausgeht, aber es ist gleichermaßen immer ihre Anmut. Egal ob es die teils schmalen, gewundenen Wege des Friedhofs meines kleinen Eifelortes hier, oder ob es die imposanten Krypten der wohlhabenden Reeder auf dem Parkfriedhof in Hamburg-Ohlsdorf sind, sie alle haben ihren Reiz.
Die Anmutung des Friedhofs in Ferragudo ist aber, wie oben schon unschwer auf dem Foto erkannt werden kann, grundsätzlich anders als alles, was wir hier in Mitteleuropa gewöhnt sein mögen.

Die Dichte der Gräber, die unfassbare Menge an Weiß, die relative Unordnung und Enge der Grabreihen, all das wirkt bereits fremd. Schaut man ein wenig länger hin, wird einem zudem bewusst, dass viele der Gräber nicht im eigentlichen Sinne gegraben, sondern vielmehr vom Boden aus aufgerichtet wurden, und auch das trägt nur dazu bei, dass man sich an einem gänzlich fremden Ort befindet. Wohlgemerkt sind die Portugiesen ebenso katholisch ist wie wir hier im Rheinland, aber schnell wird klar, dass zumindest hier auf dem Gottesacker die Art, wie das gelebt wird, eine ganz andere ist.
An dieser Stelle ist mir übrigens wichtig zu sagen: Ich habe zwar auch für diesen Artikel hier ein wenig recherchiert, aber es liegt mir fern, hier in irgendeiner Form wirkliche Sachkenntnis über die Grabriten Portugals oder spezifischer der Algarve an den Tag zu legen. Es geht mir vielmehr um die Eindrücke, die all dies hinterlassen hat.

Die Normalität sichtbarer Särge

Wer aber schon ob des Gedankens, dass die Särge der Gräber eben nicht unter der Erde sind, sondern womöglich nur durch eine Marmoreinfassung von einem selbst getrennt werden, einen Schauer verspürt, dem steht noch etwas bevor.
Mausoleen sind etwas, was ebenfalls sofort ins Auge fällt. Oftmals nur durch eine dünne Glasscheibe getrennt, steht man dann dort, blickt hinein in einen kleinen Raum und darin auf den aufgebahrten Sarg in all seiner Pracht.
Und ich meine: Pracht. Verziert, geschmückt, der Raum darum dekoriert. In manchen Fällen, las ich später, im Inneren noch einmal mit Blei ausgekleidet, was einerseits den Leichnam von der Außenwelt abschottet und andererseits die Särge so schwer macht, dass sie nicht traditionell von einigen Totenträgern zur letzten Ruhestätte getragen werden können.
Doch es war, was wir gegenüber jener Mausoleen sahen, was mich letztlich dazu bewegt hat, diesen Artikel schreiben zu wollen.

Rechts seht ihr die erwähnten Mausoleen, links hingegen eine der zahlreichen Wände mit Grabnischen

Denn Mausoleen, ich erwähnte Ohlsdorf schon, kennen wir in Deutschland ja auch. Die sichtbaren Särge eher weniger, aber generell war das noch nicht dieser so unfassbare Kulturbruch, den ich eingangs angedeutet habe. Der erstreckte sich buchstäblich gegenüber, in Form der sogenannten Nichos Funerarios.
Im ersten Moment dachten wir, es seien Urnenfächer – und manche davon waren es auch. Doch die meisten dieser Fächer beherbergen keine Urnen, sondern ganze Särge. Hinter einer einfachen, dünnen Scheibe, hinter einer schmalen Türe und für alle Welt sichtbar, standen dort Särge.
Särge um Särge.
Ebenfalls jeweils dekoriert, mit persönlichen Memorabilia ebenso wie religiöser Ikonographie, mit Texten und Fotos, standen dort die sterblichen Überreste, offen zu sehen und weniger als einen halben Meter von uns entfernt. Und das ist, was mich nachdenklich gestimmt hat.

Dem Tode angesichtig

„Because I could not stop for Death—“, schreibt Emily Dickinson, „He kindly stopped for me“. Und weiter: „The Carriage held but just Ourselves— | And Immortality.“1
Dieses Gedicht geht mir ohnehin immer mal wieder durch den Kopf, aber gerade im Zusammenhang mit diesem Friedhof hat es für mich eine besondere Stärke. Um es in eigene Worte zu kleiden, was ich meine:

Jede Begegnung mit dem Tod ist auch stets eine Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit.

Vom „memento mori“2 der Antike bis zum „valar morghulis“3 auf irgendeinem Game-of-Thrones-Merchandise, ist diese Idee auch uns eigentlich nicht fremd, aber diese Sargnischen, auch in ihrer schier unermesslichen Menge, hatten dennoch eine ganz andere Wirkung auf mich.
Es ist eine Sache Blumen auf einem deutschen Grab zu sehen, oder einen Blumenkranz am Rande eines Gemeinschaftsgrabs. Es ist etwas ganz anderes, in eines dieser Fenster zu blicken und Blumen zu sehen, die um den eigentlichen Sarg drapiert wurden.
Und ebenso ist es eine Sache, ein eher verwildertes deutsches Grab zu sehen, vielleicht wächst gar eine kleine Tanne darauf, die sich wild gesäht hat. Es ist etwas ganz anderes, in eine dieser Nischen zu blicken und zu sehen, wie alter Spitzenstoff geradezu vor den eigenen Augen zu Staub zu zerfallen scheint.

Foto © by Lichte

Und ich glaube, darin liegt ein Wert. Dem Tod wissenden Auges in sein knöchernes Antlitz zu blicken erfordert Mut, aber es ist auch schlicht die Wirklichkeit, der man sich dort stellt. Der Sand rinnt durch unser aller Uhren und niemand weiß, wie viel von ihm verbleibt.
Letzten Dezember schrieb ich in meinem Artikel zum Tode Jutta Kröhnerts ein paar Zeilen, die ich hier 1:1 wiederholen kann:
Manchmal kündigt der Tod sich an, manchmal aber eben auch nicht.
Die Reise, die ihr immer gerne schon mal machen wolltet, aber die echt gerade nicht in den Plan passt? Macht sie.
Die Freunde, die ihr noch mal besuchen oder wenigstens anrufen wolltet? Schiebt es nicht auf.
Das Bild, das ihr malen, das Buch, das ihr schreiben, das Lied, das ihr komponieren wolltet? Macht das.

Nutze deine Zeit

Wir hatten auch einen Moment auf dem Friedhof, als wir in eine Nicho blickten und darin, in liebevollen Lettern, einer unserer Vornamen geschrieben stand. Weder Lichtes Klarname noch mein euch bekannter Vorname sind besonders selten, und dennoch hatte das eine ganz seltsame Wirkung, wo wir eh gerade gefangen waren in all den Eindrücken, die der Friedhof uns bot. Du, schien es zu sagen, könntest auch hier liegen.
Ob es reiner Zufall oder eine wie auch immer geartete Form von Bestimmung ist, die darüber entscheidet, wann wir gehen – Fakt ist, Dinge hätten anders laufen können. Ein paar leicht anders verlaufene Ereignisse, und auch wir hätten genauso gut schon nicht mehr hier sein können. Nicht nur Lichte und ich, auch wir, du und ich, liebe:r Leser:in, hätten bereits diese Welt hinter uns gelassen haben können. Aber wir sind noch da.

Über der portugiesischen Knochenkapelle von Evora, von der wir leider viel zu spät realisiert habe, wie nah auch die für uns gewesen wäre, steht eine Inschrift. „Nós ossos que aqui estamos pelos vossos esperamos.“
Auch die Übersetzung ist wie immer ein wenig knifflig, aber die gängigste ist: „Wir Knochen, die hier sind, warten auf die euren.“

Im Grunde schlägt das die Brücke zu dem Punkt, wo wir heute begonnen haben. Denn auf einem alten Friedhof hier Schleiden, da steht ein Kreuz. Und auf diesem Kreuz wiederum steht, in riesigen Lettern: „Geh nicht vorüber ohne Gebet, bald bist du unser“.4
Die Botschaften scheinen nahe beieinander. Aber was dem Kreuzspruch hier ein vages „du“ ist, sind der Knochenkapelle von Evora sehr spezifisch, sehr bildlich die Gebeine jener, die die Inschrift lesen.

Auf die Menschheit insgesamt geblickt, wird es gar nicht lange dauern, bis auch unser aller Knochen ihre letzte Ruhe finden. Aber bis dahin, bis dahin sind wir hier.
Und ich finde, in gewisser Weise sind wir es denen, die schon von uns gingen, geradezu schuldig, aus unserer kurzen Zeit dennoch das Bestmögliche zu machen.
Macht ihr mit?

Viele Grüße,
Thomas

  1. Das Gedicht ist finde ich nahezu unmöglich verlustfrei zu übersetzen, aber wenn ich eine Übersetzung wählen sollte, hat es Paul Celan finde ich gut getroffen, wenn er schreibt:
    Der Tod, da ich nicht halten konnt,
    hielt an, war gern bereit.
    Im Fuhrwerk saß nun er und ich
    und die Unsterblichkeit. ↩︎
  2. Eine antike lateinische Formel, die sich je nach Auslegung übersetzen lässt etwa als „Bedenke, dass du sterben musst“, oder als „Gedenke des Todes“. ↩︎
  3. In George R.R. Martins Buchreihe ist das ein Satz in der fiktiven Sprache Hochvalyrisch, und bedeutet in etwa „alle Menschen müssen sterben“. ↩︎
  4. Und richtig, wenn ihr Verdorbene Asche oder Das letzte Kind von Kaltenstein gelesen habt – da kommt der her. ↩︎