Seelenworte

Ich habe Bücher gelesen: Q1/25

Hallo zusammen!

Willkommen zur zweiten Runde von „Ich erzähle ein bisschen von dem, was ich im letzten Quartal so gelesen habe“ – und in dem Sinne gleich zwei Dinge vorweg: Ich lese zwar eh mehr als viele, aber die schiere Menge dieses Quartal ist auch für mich ungewöhnlich hoch. Sorry also, dass das hier womöglich ein wenig erschlagend ist in der Länge.
Und keine Garantie, ob das in Zukunft immer so pünktlich zum Quartalsbeginn passen wird.
Aber nun gut: Dann wollen wir mal!

Alan Bradley: The Golden Tresses of the Dead

Ich habe im DORPCast über die Jahre sehr viel über die Flavia-de-Luce-Reihe gesprochen. Eine Krimireihe rund um eben jene Flavia, ein junges Mädchen mit einer tiefen Liebe zur Chemie und einem Händchen dafür, über kuriose Todesfälle zu stolpern. Tief in ihrem Setting – dem ländlichen England der 1950er – verwurzelt und stark von der allgemeinen Atmosphäre der Bücher und den charmanten Figuren getragen, habe ich die alle gerne gelesen.
Dies hier nun ist Band 10 und wäre der abschließende Teil gewesen, wenn der Autor nicht erst 2024 doch noch einen elften Teil nachgeschoben hätte.
Band 10 jedenfalls ist ein etwas seltsames Biest geworden. Vor allem, dass Flavia erstmals nicht nur unter der Hand, sondern ganz offiziell mit dem Familienbutler Dogger gemeinsam ermittelt, verändert unerwartete Dinge in der gesamten Dynamik der Figuren. Dogger war immer schon überdurchschnittlich klug und analytisch geschärft, aber seine dauerhafte Präsenz versetzt, gewollt oder nicht, Flavia in diesem Buch nun in die Rolle eines Dr. Watsons zu seinem Sherlock Holmes.
Für mich hat das funktioniert, aber ich glaube vielen Fans ist etwas aufgestoßen, dass Flavia hier ihr Spotlight ungewohnt teilen muss. Das ist bei so einer Reihe immer ein schmaler Grat und dass Bradley seiner Heldin eine fortwährende Entwicklung gegeben hat, hat glaube ich für ihre Fans immer mal besser, mal schlechter funktioniert. Doch egal: Ich habe es gerne gelesen. Ob Band 11 die neue Richtung fortsetzen oder versuchen wird, eine Kurskorrektur zu liefern – irgendwann lest ihr es hier.1

qntm: There Is No Antimemetics Division

Ein Gehirn-Verdreher sondergleichen. Antimeme, so die Prämisse dieses Buches, sind Ideen mit einer intrinsischen Selbstzensur. Normale Antimeme sind einfach Dinge wie Passwörter oder Tabubrüche, die man nicht freiwillig mit anderen teilen würde. Dieses Buch aber erzählt eine übergreifende Geschichte in Form zahlreicher Vignetten über ‚anomalen Antimeme‘ – teils boshafte Entitäten, deren Kern es ist, dass sie sich geistiger Erfassung entziehen.
Das beginnt mit ein paar eher skurrilen Geschichten – eine Frau muss rechtfertigen, weshalb sie ihre Sicherheitsfreigabe besitzt, weil ihr Vorgesetzter das Wissen um ihre komplette Abteilung verloren hat. Und ein Mann verbringt seinen ersten Tag in eben jener Abteilung, nur um nach und nach zu rekonstruieren, dass dies gar nicht sein erster Tag ist, diese Information aber aus dem Bewusstsein der Menschen gerückt ist.
Ausgehend von diesen verworrenen, aber für sich genommen einfachen Aspekten eskaliert Autor qntm das Konzept dann immer weiter, bis zu buchstäblich apokalyptischen Ausmaßen.
Das Buch ist weird, stellenweise abstrakt und manchmal kratzt es an der ergodischen Erzählweise eine House of Leaves, wenn auch nie in dessen extrem.
Kurzum: Ich lieb‘s!

Christopher Buehlmann: Between Two Fires

Dieses Buch ist knifflig zu greifen. Objektiv ist es die Geschichte eines gefallenen Ritters, der vielleicht eine letzte Chance auf Wiedergutmachung findet, als er beschließt, eine junge Frau durch das von der Pest verwüstete Frankreich nach Avignon zu geleiten. Ein gleichsam desillusionierter Priester schließt sich ihnen an, und so ziehen die drei los, nicht mal wirklich sicher, weshalb.
Aber das, was dieses Buch so brillant macht, sind all die Elemente zwischen den Zeilen.
Es ist Buehlmanns tolle Art, mit Sprache umzugehen. Es ist die Beiläufigkeit, mit der er reale Gräuel der Zeit und scheinbar übernatürliche Elemente in die Geschichte webt, lange bevor man als Leser zu fassen bekommt, was er hier erzählt.
Es ist kein einfach zu lesendes Buch, und eines, das wegen Buehlmanns unorthodoxer Art, Dialoge zu schreiben und zwischen den Erzählperspektiven zu changieren, konstante Aufmerksamkeit des Lesers verlangt.
Aber ich fand es dennoch fesselnd, faszinierend, manchmal abstoßend und manchmal rührend – und am Ende führt alles ganz wunderbar zu einem rundum guten Finale.
Und dann haut er auf den letzten Zeilen sogar noch eine Sache raus, bei der mir plötzlich das Wasser in den Augen stand.
Ein unfassbar starkes Buch.

Paolo Cognetti: Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen

Was für ein faszinierendes, kleines Buch. Da ist zum einen Paolo Cognetti, Schriftsteller, der mit zwei Freunden aufbricht, um in den Bergen Nepals zu wandern. Dabei nimmt er mehr und mehr Abstand zu dem Alltag, dem er entflieht, und kommt zunehmend an den Punkt, über unterschiedlichste Facetten des Lebens nachzusinnen.
Gleichzeitig hat er Peter Matthiessens Auf der Spur des Schneeleoparden im Gepäck, der seinerzeit exakt die gleiche Region bereiste und dabei seinerseits eben jenen Klassiker schrieb.
Und dann ist man selber da, als Leser, und folgt gleichzeitig Cognettis und Matthiessens Gedanken, oder vielmehr Cognettis Gedanken über Matthiessens Gedanken, anhand derer er seine eigenen, aktuellen Eindrücke verewigt – und all das ist dann Reflexionsfläche für einen selbst.
Ich bin gar nicht so der Nepal-Fan, aber ich mag das Wandern und ich weiß um die wundervolle Qualität, darüber dem Alltag zu entfliehen.
Wer nur ein Buch über all das lesen wollen würde, dem würde ich glaube ich nach wie vor zu Sylvain Tessons Der Schneeleopard raten, aber Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen ist ein tolles Buch, unumwunden.

Ganz, ganz viel Elric

Und dann bin ich aufgebrochen und habe mich durch das Komplettpaket Elric gearbeitet; jedenfalls so sehr man das in Michael Moorcocks endlos verwobenem Multiversums-Zyklus überhaupt abgrenzen kann. Das habe ich vor etwa 20 Jahren schon mal gemacht, zumindest mit sechs dieser acht Romane, aber noch nie so fokussiert. Im Schnelldurchlauf:

  • Elric von Melniboné ist ein nettes Stück Sword&Sorcery, das sprachlich ein paar wirklich tolle Passagen enthält und inhaltlich ziemlich genau das liefert, was man von dem Genre erwartet.
  • Die Festung der Perle ist mein Favorit der ganzen Reihe. Chronologisch die zweite Geschichte, wenngleich erst Jahrzehnte später veröffentlicht, hat mir gerade der surreale, teilweise fast meditative Mittelteil gefallen. Sehr viel weniger edgy, sehr viel nachdenklicher. Und es bleibt denke ich zu erwähnen, dass Oone die einzige Liebhaberin Elrics im ganzen Zyklus ist, die weder mit ihm verwandt noch minderjährig ist. Yay, Moorcock-Spätwerk? 2
  • Auf der See des Schicksals ist auch ein spannendes Buch, vor allem weil Moorcock hier seine ganze Eternal-Champion-Multiversums-Idee mit unerwartet offensiver Herangehensweise ins Rampenlicht rückt. Cool.
  • Der Zauber des weißen Wolfs war so der Punkt, wo meine Begeisterung für die Reihe ein paar Risse bekam. Der erste Plotbogen um Elric, seine geliebte Cousine und seinen gehassten Cousin, findet ein Ende, aber wirklich befriedigend war das alles nicht.
  • Die schlafende Magierin war … schwierig. Schon im Band vorher hat Moorcock Erlics neuen Erzfeind Theleb K’aarna eingeführt, der hier nun wirklich in seine Rolle als Oberschurke hineinwächst. Aber oh Gott oh Gott finde ich den eine pappnasige Figur, und das zieht insgesamt die folgenden Geschichten stark herunter. Ein Held ist halt nur so gut wie sein Widersacher, und Theleb K’aarna ist einfach nur erbärmlich.3
  • Die Rache der Rose ist cool. Nicht so cool wie Die Festung der Perle, aber es stecken ein paar echt schöne Ideen in dem Buch, das allerdings zugleich ein bisschen wie ein Querschläger in der Gesamt-Chronologie auf mich wirkte.
  • Der Fluch des schwarzen Schwertes – seufz, Theleb K’aarna ist zurück und genauso ein Hohlraumdübel wie zuvor. Immerhin findet diese traurige Odyssee hier dann ihr Ende. Ein Lichtblick ist, wie man merkt, dass sich hier langsam die Ereignisse des Finales anbahnen.
  • Sturmbringer ist dann aber noch mal ein Kracher von einem Finale. Hier wird mehr oder weniger alles vergolten, was noch an Rechnungen offen ist (was in der Regel bedeutet, dass Elrics Schwert Seelen zu trinken bekommt). Was mich fasziniert hat, ist, wie konsequent Moorcock hier de facto das Ende der Welt zelebriert. Je bei Warhammer oder so das Gefühl gehabt, dass das Chaos zwar spaßig ist, aber nie so wirklich die völlige Entropie durchzieht? Hier schon. Ein wirklich starkes Ende.

Und sonst waren da noch …

  • Bradley, Alan: The Curious Case of the Copper Corpse ist nochmal Flavia de Luce, allerdings als Digital-Only-Kurzgeschichte. Die Geschichte ist nett. Für mehr ist sie schlichtweg zu kurz. Aber nett.
  • Brrémaud, Frédéric: Les Vacances de Donald ist spannend! Ein komplett auf gesprochene Dialoge verzichtender, von Federico Bertolucci unfassbar schön gezeichneter Donald-Duck-Comic. Fängt für mich perfekt den Geist der frühen Kino-Kurzfilme ein.
  • Fideler, David: Breakfast with Seneca war ein Buch, das mir im Zuge der Frage begegnete, wieso zum Geier ausgerechnet Stoizismus gerade online zu boomen scheint. Das ist ein Beitrag für ein anderes Mal, aber das Buch ist durchaus eine gute und leserfreundliche Annäherung an die Philosophie.
  • Fisher, Mark: Capitalist Realism. „Is there no alternative?“, fragt der Untertitel des schmalen Buches provokativ. Nach der Lektüre muss ich sagen … weiß ich immer noch nicht. Fisher benennt reale Probleme, aber als Sachbuch fand ich den Titel zutiefst enttäuschend. Wenn der Umgang mit Quellen in den Goodreads-Rezis gründlicher ist als im Buch selbst, ist das ein Warnsignal.
  • Geluck, Philippe: Le Chat à Malibu ist ein Sammelband frankobelgischer Comicstrips, die zugegebenermaßen an den Grenzen meiner Sprachkenntnis etwas rütteln. Aber es steckten definitiv ein paar gute Lacher in dem Buch.
  • Giulivo, Romuald: Der letzte Tag des Howard Philipps Lovecraft hat bei mir die Frage hinterlassen, ob der Autor sich der Ironie des Werks bewusst ist. Ein Lovecraft, der auf dem Sterbebett versucht, gegen die Unsterblichkeit seines Vermächtnis‘ aufzubegehren und ein Comic, der damit genau jenes Vermächtnis weiter nährt. Jakub Rebelkas Artwork ist grandios.
  • Hirsch, Alex: Gravity Falls – Lost Legends ist eine Graphic Novel zu eben jener Disney-Serie, direkt aus der Feder ihres Showrunners. Vier Geschichten zwischen gut und sehr gut, und einfach ein wenig mehr Zeit mit Dipper, Mable und Gruncle Stan.
  • Jousselin, Pascal: Unschlagbar 1-3 sind drei frankobelgische Comic-Alben ganz besonderer Art. Denn Unschlagbar ist ein Superheld, der buchstäblich die Grenzen des Mediums sprengt – er kann in nebenstehende Panels schauen, kann sich selbst in früheren oder späteren, angrenzenden Panels Dinge reichen und derlei mehr. Und immer wenn man denkt, die Ideen wären verbraucht, zieht er eine neue Meta-Pointe aus dem Hut. Extrem gut!
  • Kindt, Matt: Poppy! and the Lost Lagoon ist eine sympathische Graphic Novel mit klassischer Pulp-Entdecker-Geschmacksrichtung. Ist nicht weltbewegend, macht aber Spaß zu lesen.
  • LaValle, Victor: The Ballad of Black Tom ist der Versuch, Lovecrafts Grauen von Red Hook aus einer POC-Perspektive neues Leben einzuhauchen. Hat für mich nicht funktioniert; leider.
  • Lem, Stanisław: Solaris. Sicherlich ein Klassiker. Hat mich aber, muss ich zugeben, insgesamt eher kalt gelassen.
  • Miéville, China: The City and the City ist ein Hammer von einem Buch. Die beiden Stadtstaaten Besźel und Ul Qoma gleichen auf dem ersten Blick dem geteilten Berlin, doch ihr Dilemma ist weit größer, denn sie trennt keine fixe Mauer. Die beiden Städte überlappen und manche der Straßen liegen in beiden Territorien zugleich. Diese einzige Idee trägt das brillante Buch geradezu meisterhaft … vielleicht ist das sogar mal einen eigenen Artikel wert …
  • Miller, John Jackson: Star Wars – A New Dawn ist die Geschichte, wie sich Hera Syndulla und Kanan Jarrus kennengelernt haben. Wenn ihr das lest und das cool klingt, lohnt das Buch. Wenn ihr nicht wisst, wer das ist, gibt es vermutlich bessere.
  • Moran, Brian P.: The 12 Week Year ist ein Buch, dass gute Ideen bietet, aber für mich das Herz am falschen Fleck hat. Hier geht es um mehr Effizienz, nicht um damit ein besseres Leben zu führen, sondern um noch mehr zu arbeiten. Die Methode spannend, die Haltung gruselig.

So, und damit habe ich euch wirklich genug Zeit gestohlen. Wenn ihr bis hier gelesen habt – danke euch!
Die Tage gibt es dann mal wieder mehr zu hier zu meinem eigenen Schaffen!

Viele Grüße,
Thomas

  1. Wer dem DORPCast gelauscht hat, fragt es sich vielleicht schon … und ja, auch Band 10 bleibt der Tradition schrecklichster deutscher Titel treu und benennt das Buch Todeskuss mit Zuckerguss. ↩︎
  2. „Aber das war halt früher so!“, mögen einige rufen. „Cymoryl ist seine Cousine und Zarozinia immerhin 17, das war in früheren Zeiten normal. Das ist nur realistisch.“ Okay.
    Aber Elric hat auch ein seelentrinkendes Zauberschwert und reitet bisweilen auf einem Drachen in die Schlacht. Prioritäten, Leute. Prioritäten. ↩︎
  3. Im Ernst. Theleb K’aarna ist eifersüchtig, weil er glaubt, Elric habe was mit seiner geliebten Königin Yishana – aber das stimmt halt einfach nicht. Also nicht nur ist Yishana eine promiskuitive Karikatur ohne ehrliches Interesse an K’aarna, Elric will auch eigentlich gar nichts von ihr. Das als Prämisse zu nehmen, Theleb K’aarna durch grob den halben Zyklus hinweg wieder und wieder hervorzukramen, lässt ihn einzig als lachhaften, selbstbewusstseinslosen Incel-Edgelord erscheinen, und das wiederum … trägt für mich einfach nicht, was Moorcock da versucht an Epik drumherum zu weben. ↩︎