Theorien der Dramaturgie, Teil 3 von 3: Das „beat sheet“

Hallo zusammen!

Ich vermute, für manch einen, der bisher artig und erfahren genickt hat, wenn ich von den Theorien sprach, dürfte die Reaktion heute in etwa „Okay … was?!“ gelautet haben. Nicht ganz ohne Grund.
Wir sind zurück in der Filmtheorie gelandet, sind bei Blake Snyder angekommen, den ich vorgestern bereits erwähnte. Snyder hat ein phantastisches Buch namens „Save the Cat“ geschrieben, dass sich nicht nur mit der unglaublichen Reißbrett-Natur moderner Filme auseinandersetzt, sondern auch versucht zu erläutern, wie man diese ausnutzen kann. Das Buch hört auf den klangvollen Untertitel „The Last Book on Screenwriting You’ll Ever Need“, etwas, was er selber herzhaft veralbert hat, als er mit „Save the Cat Strikes Back“ noch einen zweiten Band veröffentlicht hat, der allerdings auch nur verfeinert, was bereits zuvor zu lesen war.
In „Save the Cat“ stellt er das „beat sheet“ vor, ein 15-Punkte-Plan zur Konstruktion eines Filmes. Er rechnet dabei fix mit 110 Drehbuchseiten (denn tatsäclich entspricht eine Norm-Drehbuch-Seite im Durchschnitt nachher einer Minute Film) und gliedert diese teils auf die Seite genau in verschiedene Bereiche.
Snyder ist dabei viel mehr dem Medium Film verpflichtet, als es etwa Field noch mit seinem weitestgehend von Aristoteles aus verdummten System darstellt, was aber nicht heißt, dass er nicht dennoch auf einer wahren Goldgrube gesessen hätte. Vor allem aber kann man sein Schema – wen das Original interessiert, man kann sich eine Formularversion davon hier herunterladen – durchaus mit etwas Denkleistung auf auf geschriebene Worte übertragen.

Ich würde es dann in etwa so aufschlüsseln (die Prozentangaben sind von seinen Drehbuchseiten abgeleitet):

Der erste Absatz: Die einzige Chance einen Leser direkt und explizit zu fesseln)

Das Thema: Etablierung des grundlegenden Settings, der grundlegenden Idee der Geschichte an sich (nach maximal 5%)

Die Startsituation: In welchem Umfeld sind die Protagonisten, wie ist die Lage zu Beginn der Geschichte? (die ersten 9%)

Der Katalysator: Etwas passiert, was die Handlung in Gang bringt (nach rund 11%)

Die Debatte: Mit Worten oder Taten wird ein erster Umgang mit dem Katalysator geprobt (11-23%)

Umbruch in den zweiten Akt: Die Geschichte erhält eine neue, bisher noch unerwartete Richtung oder Komponente (exakt nach 23%)

Die Zweithandlung: Ein Nebenplot bahnt sich den Weg in die Geschichte; der Blick richtet sich auf einen bisher unbekannten, neuen Einfluss auf die Gesamthandlung (27%)

Die Handlung geht voran: Haupthandlung und Zweithandlung entwickeln sich, werden ausgereizt, werden erzählt, alles gewinnt an Details (27-50%)

Der Mittelpunkt: Akzentuierung eines Handlungsumbruchs, entweder durch ein fälschliches Hoch oder sehr konkretes Tief des Helden (exakt bei 50%)

Das Unheil nimmt seinen Lauf: Die Schurken gewinnen an Einfluss, das Dilemma weitet sich aus, immer mehr scheint verloren (50-68%)

Alles ist verloren: Der ultimative Tiefpunkt des Helden, kein Licht scheint mehr am Ende des Tunnels (68%)

Die dunkelste Stunde: Die Waffe auf den Kopf gerichtet, den Gasherd aufgedreht, alles scheint vorbei, es scheint keinen Ausweg mehr zu geben. Doch dann, nach diesem laut Snyder zwingenden Tiefpunkt erhebt sich der Held mit ungeahnter, neuer Kraft und tritt zurück ins Licht (68-77%)

Umbruch in den dritten Akt: Der Held tritt mit neuer Kraft aus der Talsohle seiner Erfahrungen hervor und stellt sich letztlich nicht nur der Herausforderung, er ist bereit dafür (77%)

Das Finale: Selbsterklärend, denke ich. Der Protagonist stellt sich den Wirren des Schicksals und lenkt seine Schritte wieder voran (77-100%).

Der letzte Satz: Viel seltener beschrieben, aber nicht minder eine Kunst wie der erste, ist der letzte Satz das, was den Leser aus dem Buch entlässt und eine gute Gelegenheit, würdig zu schließen, will man den Rezepienten vielleicht beim nächsten Buch wieder begrüßen.

Ist Snyder jetzt das Allheilmittel?
Ganz sicher nicht. Zunächst muss ich ganz klar sagen, dass das obige Modell eine schon brutale Zusammenfassung einer wesentlich komplexeren Theorie ist, die ich – anders als bei den beiden vorigen Einträgen – auch durchaus mal als Kaufempfehlung aussprechen will. Selbst wenn das Buch einen klaren Fokus auf Drehbücher hat.

Snyders Modell ist für mich aber besonders in einem Punkt herausragend: Es ist konkret. Man muss ihm nicht zustimmen, man muss seine Einschätzungen nicht teilen, aber zumindest kann man sie ganz konkret überprüfen. Er selber hat ein ganzes Buch geschrieben, in dem er sein Modell mit diversen Filmen abgleicht, um einfach Zuspruch für seine Überlegung zu erlangen. So weit müssen wir ja nun nicht gehen.
Aber Modelle nützen ja auch, wenn man sich gerade nicht an sie halten will. Sagen wir, rein fiktiv, jemand will eine Geschichte schreiben, in der im letzten Drittel noch ein vollkommen ungeahnter Handlungsbogen auftaucht. Also nicht nach 27% der Handlung, wie Snyder das verordnet. Dann führt das zu der Frage „Warum sieht der Mann das anders als ich?“
Und ausgehend von dieser Frage hat man zumindest noch eine zweite Perspektive, aus der heraus man auf seine eigene Idee blicken kann und entweder findet man ein gutes Argument, oder man sollte vielleicht seine Herangehensweise doch noch mal überdenken.

Nun, so viel zu den drei Modellen. Morgen gibt es noch ein kurzes Fazit dazu.

Viele Grüße,
Thomas

6 Kommentare zu “Theorien der Dramaturgie, Teil 3 von 3: Das „beat sheet“

  1. Hallo,

    der Link „http://www.blakesnyder.com/tools/“ funktioniert leider nicht mehr. :-(

    Ich spekuliere jetzt einfach mal und vermute, dies liegt daran, dass er nun Workshops für Beat Sheets jeweils für Drehbuchautoren und Romanautoren anbietet. ;-)

    Spekulative Grüße

    Reiner Block

    • Hallo und vielen Dank für den Hinweis1

      Tatsächlich ist das Formular in einer hübscheren und zugleich etwas weniger selbsterklärenden Form nach wie vor online zu finden, und zwar hier: http://www.savethecat.com/tools/the-blake-snyder-beat-sheet-the-bs2.html
      Allerdings war der alte Link tatsächlich außer Betrieb und insofern war das ein guter Tipp, den Missstand direkt zu beheben.

      Die Spekulation ob möglicher Seminare und Kurse kann bzw. muss ich aber leider mit traurigem Anlass entkräften, denn Snyder ist bereits 2009 verstorben.

      Viele Grüße,
      Thomas

      • Ups, sorry. Die Spekulation nehme ich natürlich zurück. Da hätte ich wohl nicht nur die ersten drei Absätze seiner Bio lesen sollen. Denn der dritte Absatz endet damit, dass sein letztes Buch im November 2009 erschien, also gut drei Monate nach seinem Tod. Hm, vor kurzem habe ich noch von einer anderen bekannten Persönlichkeit gelesen, die auch an einer Lungenembolie gestorben ist. Auch viel zu jung. Also ist Blake gerade mal – wow, Blake ist am gleichen Tag geboren wie ich, lediglich genau fünf Jahre früher – so alt geworden wie ich gerade bin.

        Oft frage ich mich, warum die guten Mensch oftmals so früh sterben und andere Menschen, „weniger“ gute wie z. B. Mugabe, so lange leben…

        Seufzende Grüße
        Reiner

  2. Pingback: Die Eckpunkte einer Dramaturgie | Eifelarea Film

  3. Ich muss dir leider wiedersprechen, wenn du sagst, Snyder sei kein Allheilmittel. Ich will ihn damit sicher nicht als einen Gott bezeichnen, Fakt ist aber, dass ich so ziemlich jedes Buch über das Drehbuchschreiben gelesen habe und auch einige über das Schreiben von Geschichten. Viele Dinge, die in anderen Büchern erwähnt wurden, finde ich bei Snyder wieder, mit dem Unterschied, dass ich es bei ihm verstanden habe. Schon vor 15 Jahren habe ich bei Lajos Egri von einer Prämisse gelesen, Snyder nennt es Leitmotiv. Habe ich bei Egri verstanden, wie ich mit der Prämisse arbeite? Nein. Bei Snyder.

    Mein Ratschlag an alle, die das Buch lesen. Lest es durch, und dann, das allererste was ihr macht: Schaut Filme. Nehmt das Buch in die Hand, schlagt dem Abschnitt mit dem Beat Sheet auf, nehmt auch was zum Schreiben, und schaut dabei Filme. Nur so werdet ihr verstehen. Film für Film. So war es bei mir. Ich schaue teils allein, teils mit Gleichgesinnten, was super ist für den Austausch.

    Und noch ein Tipp: Bei Google findet man locker irgendeinen „blake snyder beat sheet calculator“. Das mache ich immer vor einem Film, gebe die Lauflänge ein (ziehe aber 5min für die Credits am Ende ab) und kann dann leichter damit arbeiten.

    • Moin Martin!

      Auf der einen Seite widersprichst du mir ja gar nicht – ich spreche in dem Artikel ja sogar eine Kaufempfehlung für das Buch aus, rate zu dessen Lektüre und dazu, sich mit den Theorien auseinanderzusetzen.
      Aber es gibt einen ganz zentralen Punkt, weshalb ich mich dennoch scheue, ihn ein Allheilmittel zu nennen: Das Save-the-Cat-Modell mit Beat Sheet ist exzellent darin, Filme auf eine gefällige Art zu strukturieren. Es ist auch sehr gut darin, dich darin anzuleiten. Und eine Vielzahl erfolgreicher Filme folgt dieser Struktur. Aber: Es ist genau darin auch eingeschränkt.
      Zum einen, weil es halt explizit auf Filme bezogen ist – das ist keine inhärente Schwäche, aber Bücher erzählen teilweise anders als Filme, Buch-Zyklen noch mal umso mehr. Snyder ist exzellent darin, Snyder zu sein – aber gerade im Independent-Bereich wirst du es aber auch immer mal wieder vorfinden, dass jemand aus genau diesen Schemata ausbrechen will. Ach, selbst bei Blockbustern erlebst du das.
      Snyder wird mir zu oft zu dogmatisch verstanden – das ist nicht mal zwingend in seinem Sinne, aber genau das ist es, wovor ich warnen will.

      Weil sonst bist du irgendwann bei Drehbuch-Schreiben nach Zahlen.
      Und ich zumindest möchte da nicht hin.

      Viele Grüße,
      Thomas

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